Paperboy
ich stand in der Tür und beobachtete ihn, bis er mich entdeckte.
»Er hat sie umgebracht«, sagte ich.
»Ich weiß.«
Ich ging hinein und setzte mich auf den Boden. Ihr Tod ging ihm nicht so nah wie mir, hatte aber irgendwo seinen Platz gefunden, ein weiteres Beweisstück, das sich in einen größeren Zusammenhang fügte.
Ich dachte an ihre Brüste, wie sie im Wasser trieben.
Mein Bruder machte sich wieder ans Packen.
»Wohin gehen wir?«
Er betrachtete die Kartons an der Wand, als versuchte er, sich zu entscheiden. »Ich kann nicht mehr«, sagte er. »Es funktioniert nicht.« Und ich begriff, dass ich zu dem gehörte, was er nicht mehr konnte. Er wollte sich um niemanden mehr kümmern und ertrug es auch nicht mehr, dass man sich um ihn kümmerte. Ich gab mir keine Mühe, ihm seinen Entschluss auszureden.
Ich half ihm, die Kartons nach unten in den Wagen zu tragen. Er verstaute sie sorgfältig und nach Nummern geordnet im Kofferraum und auf dem Rücksitz. Dort waren sie auch noch, in genau der Anordnung, als ich vier Monate später nach Kalifornien flog, um seine Sachen abzuholen.
AUF DEM POLIZEIREVIER übergab mir ein freundlicher Sergeant die Schuhe meines Bruders, die Brieftasche und die Schlüssel, die er darin gefunden hatte, und er fragte, ob Ward öfter nachts im Meer schwimmen gegangen sei.
»Es gibt hier eine stärkere Unterströmung als bei euch in Florida«, sagte er.
Mehr sollte ich nie über den Tod meines Bruders erfahren.
NACHDEM SEIN SOHN in Kalifornien ums Leben gekommen war, überdachte mein Vater die Lage, rettete, was zu retten war, und bot mir eine Stelle als sein Stellvertreter bei der
Tribune
an, bis zu jenem Tag, an dem ich die Zeitung übernehmen sollte.
Ich lehnte das Angebot ab, blieb in Miami und arbeitete als Assistent in der Nachtredaktion. Und es gab Zeiten – meistens nach einem schweren Unglück –, in denen das Telefon alle fünf Minuten klingelte und ich aus zwei Dutzend panischen Anrufen eine Story machte, die mich ein, zwei Stunden fesselte, sodass ich einen gewissen Frieden in all dem Chaos und der Aufregung fand.
Besser habe ich nie verstanden, was mein Bruder meinte, als er sagte, die Arbeit mache es erträglich.
JAHRE SPÄTER VERSAGTEN die Nieren meines Vaters, und ich kehrte nach Moat County zurück, übernahm die Zeitung und entließ seine Frau als Geschäftsführerin. Sie bleibt jetzt zu Hause und bestellt neue Möbel. Eine Maschine reinigt sein Blut.
Mein Vater ist alt, er wurde alt, als er begriff, dass sein Sohn niemals wieder von der Westküste zurückkehren würde. Aber er klammert sich an das, was er kann: Geschichten erzählen. Er erzählt sie nach dem Essen, meistens sich selbst oder den Schwestern im Krankenhaus, wenn er an die Dialysemaschine angeschlossen wird. Ralph McGill ist wieder da! Seine Geschichten umspannen drei Jahrzehnte, aber sie enden alle im Jahr 1969. Der Name meines Bruders wird nie erwähnt.
Es ist nicht das Alter, sondern eine lebenslange Angewohnheit. Er glaubt, wenn er nicht hinschaut, bleibt er unversehrt.
Mein Vater kommt nachmittags noch immer ins Büro, um an der Redaktionskonferenz teilzunehmen und stumm am Kopfende des Tisches zu sitzen, wenn die Redakteure über die Platzierung der Artikel in der nächsten Ausgabe streiten.
Er hört ein, zwei Minuten zu, dann lässt er seine Gedanken schweifen, und der Blick wandert zum Fenster, durch das man die Nachrichtenredaktion überblicken kann. Er holt ein Messer aus der Tasche und streicht mit der Klinge in kreisförmigen Bewegungen über die Armlehne, als wollte er sie schärfen.
Manchmal nennt er mich Ward.
Kein Mensch bleibt unversehrt.
8. Februar 1994
Whidbey Island
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