Paraforce 3 - Jagd auf einen Totengeist
töten.
Clemens stand in seinem hellblauen Schlafanzug hinter der Tür seines Zimmers und spähte durch das Schlüsselloch. Eine geraume Weile herrschte unten bereits Stille, doch er war nicht sicher, ob er dies für ein gutes Zeichen halten sollte. Er konnte die schrecklichen Laute von vorhin nicht einordnen; beinah war es ihm vorgekommen, als wäre noch jemand bei seinen Eltern gewesen, aber das war sicher vollkommen abwegig.
Plötzlich hörte er leise Schritte auf der Treppe. Clemens presste wieder ein Auge vor das Schlüsselloch und sah seine Mutter im Schein der Lampe, die nachts immer brannte. Ein leiser Schrei entfuhr ihm. Ihr kurzes Nachthemd war mit Blut getränkt, genau wie auch ihre Füße, und ihr Gesicht war eine verzerrte Grimasse, aus der groß und weiß und alptraumhaft ihre Augen hervorstachen. War das dort wirklich seine Mutter oder jemand Fremdes, der ihr Aussehen angenommen hatte, und nun zu ihm wollte? Ein Instinkt sagte ihm, dass er fort musste.
Ohne sich umzuschauen, ging er rückwärts zum Fenster. Als er es im Rücken spürte, drehte er sich um und öffnete es. Die Scharniere quietschten leise, das taten sie bereits seit Monaten; sein Vater hatte sich schon so oft vorgenommen, sie zu ölen, doch immer war etwas geschehen, das wichtiger war. Für einen Sprung war es zu hoch, wenngleich Clemens oft mit offenen Augen davon geträumt hatte, es doch unversehrt schaffen zu können. Aber es gab einen anderen Weg, der gefahrloser zu bewältigen war. Bis fast an das Fenster wuchs der dicke Ast eines mächtigen Baums heran, den Clemens bereits oft als aufregende Alternative benutzt hatte, die Wohnung zu verlassen. Mehrmals hatten seine Eltern ihn deswegen gescholten, aber alle Versprechungen, es nie wieder zu tun, waren kurze Zeit darauf gebrochen.
Mit traumwandlerischer Sicherheit stieg Clemens auf das schmale Sims und hielt sich am oberen Rand des Fensterrahmens fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Es bedurfte nur eines großen Ausfallschrittes, um auf den Ast zu steigen. Genau das war jedoch stets der kritische Punkt, denn sobald er das tat, musste Clemens seine Hände vom Fensterrahmen lösen und allein auf seine Standsicherheit vertrauen. Ein wenig höher streckte sich ihm ein anderer, etwas dünnerer Ast entgegen, den er nur zu packen brauchte, um wieder sicheren Halt zu bekommen.
Gerade als er dort stand, wurde die Tür seines Zimmers aufgerissen und seine Mutter stieß einen irren Schrei aus, der Clemens Finger beinah vom Ast gelöst hätte. Er warf einen Blick in das Zimmer hinein und erwiderte den Schrei. Wie eine Furie stürzte seine Mutter zum Fenster, das Messer drohend über ihrem Kopf schwingend. Er sah die Tränen der Verzweiflung in ihrem Gesicht, was er als Widerspruch zu ihrem mörderischen Zorn empfand.
Was hab ich denn getan ?, dachte er verzweifelt. Was hat sie so böse gemacht?
Beinah war sie schon heran, um ihn zu packen, da löste Clemens sich aus der Starre, die ihn für einen Moment bewegungsunfähig gemacht hatte. Er wusste aus Erfahrung, dass der Rest ein Kinderspiel war, ein sanfter Abstieg von Geäst zum tieferen Geäst, das er ähnlich wie eine Treppe nutzen konnte. Lediglich die letzten anderthalb Meter musste er springend überwinden.
Die Klinge fauchte nah an seinem Gesicht vorbei. Seine Mutter fiel beinah aus dem Fenster, so weit lehnte sie sich hinaus. Noch einmal fuhr das Messer auf ihn zu und einen beängstigenden Augenblick lang befand Clemens sich mit beiden Füßen in der Luft, als er dem Hieb auswich. Wild strampelnd suchte er nach dem Ast, um wieder Tritt zu fassen.
Seine Mutter schrie und stieß heisere, beinah kläffende Keuchlaute aus. Ihre weit aufgerissenen Augen waren leuchtende Scheiben des Irrsinns. Sie schien ihn gar nicht mehr zu erkennen. Schreiend und geifernd stieß sie das Messer nach ihm. Dann wuchtete sie sich aus dem Fenster hinaus und packte mit wilder Entschlossenheit einen Ast, der unter dem Ansturm zu brechen drohte.
Clemens beeilte sich, hinunter zur kleinen Grasfläche zu klettern, die ihr Haus von der Straße trennte.
Als er unten angelangt war, erblickte er das Gesicht seiner Mutter im Geäst des Baumes. Er sah ihre Tränen, die nicht zu der vor Wut verzerrten Grimasse passten. Wie ein Miniaturregenschauer fielen die Tränen zu ihm hinunter. Er streckte die Hand aus und ein warmer Tropfen landete wie eine Segnung auf seiner Handfläche.
Erneut stieß Eva Kaulmann einen grunzenden Schrei aus und der
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