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Paragraf 301

Paragraf 301

Titel: Paragraf 301 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Eggers
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starker Betrieb dort, besonders wenn der Durchfall seine Runde macht, denn die Leute von oben haben nur ein Klo und keinen eigenen Wasserhahn. Sie verrichten ihre Notdurft bei uns und holen ihr Wasser aus unseren Wasserhähnen, und weil sie keine Eimer haben, sondern nur kleine Konservendosen, müssen sie den ganzen Tag herunter- und hinaufgehen, und so ist es ein Kommen und Gehen von früh bis spät. Sie leben in einem riesigen steinernen Saal, mehr als dreihundertfünfzig sollen es sein, und ich habe lange gebraucht, bis ich mir bestimmte Gesichter merken konnte.

    Einige Male war ich oben. Man muss in den Innenhof gehen und eine steile eiserne Treppe aufsteigen, um in den Saal zu gelangen. Vor dem einzigen Fenster steht eine Tonne, ein ehemaliges Ölfass vielleicht, unter dem ein rauchiges Feuer das Wasser wärmt. Beißender Qualm empfängt dich, wenn du eintrittst, und dahinter ist eine Dunkelheit, so dicht und pechschwarz wie der Blick des Blinden. Sie haben ein paar nackte Glühbirnen dort und manchmal, wenn es Strom gibt, sieht man die langen Reihen der doppelstöckigen Betten, immer vier und vier zusammengestellt, und die bärtigen Gesichter magerer Männer. Sie hocken auf den Matratzen und schweigen, oder sie flüstern miteinander, meistens von der nächsten Amnestie, und dann werden ihre Blicke noch glühender als sonst.

    Dagegen ist unser Reich klein. Es besteht aus der oberen Etage von zwei zusammengestellten doppelstöckigen Eisenbetten. Nachts schlafen wir darauf und am Tag sitzen wir darauf, jeder auf seinem Viertel, wir vier: der Österreicher, der Deutsche, der Franzose und ich. Seit ich Untertan des Österreichers bin, habe ich genug zu essen. Deshalb passe ich gut auf den Koffer des Deutschen auf, denn darin sind seine Sachen, die er nach und nach verkauft. Mit dem Geld schicken sie mich einkaufen, unten im Hof kann man vormittags an einer hölzernen Luke Kartoffeln, Zwiebeln und Eier erstehen, und manchmal Käse oder Tomaten und Paprika. Nur das Brot und die Suppe, die wir vormittags bekommen, müssen wir nicht bezahlen. Aber man wird nicht satt davon und kann die Suppe nur essen, wenn man einen Napf hat. Die Ausländer haben jeder einen, der Franzose hat ihn dem letzten Toten abgenommen, einem Mann aus Bingöl, über den ich sonst nichts weiß. Hier wird ziemlich viel gestorben, besonders nach Razzien, wenn wir geschlagen worden sind, oder nach Verhören, in denen wir gefoltert wurden. Sie fesseln uns die Hände auf dem Rücken und hängen uns daran auf, an einem Haken in der Decke, den sie drehen können. Es dauert nicht lange, bis die Arme auskugeln, und man kann seine Kraft verlieren für alle Tage. Oder wir müssen uns nackt ausziehen und werden mit eiskaltem Wasser abgespritzt. Manchmal müssen wir dabei auf Glasscherben stehen, jede Bewegung schneidet in die Füße. Oder sie machen Sachen mit uns, die man später niemals erzählen kann. Denn sie dürfen mit uns machen, was sie wollen – es gibt ein Gesetz, dass sie nicht bestraft werden können für das, was sie im Dienst getan haben.

    Den Deutschen schlagen sie nicht. Er glaubt, er kommt hier bald raus, sein Konsul hole ihn. In der letzten Woche dachte er, es sei so weit. Die Wachen haben ihn abgeführt und abends zurückgebracht. Ihm war nichts passiert, er kam so gesund wieder, wie er fortgegangen war. Er erzählte, er sei in einem großen Raum gewesen, mehrere Männer in Uniformen hätten hinter Tischen gesessen, sie hätten geredet, aber er habe ja nichts verstehen können. Den Konsul habe er nicht gesehen. Eine Gerichtsverhandlung, habe ich ihm erklärt. Sicher hatte man ihn verurteilt. Aber zu wie vielen Jahren, das vermochte ich auch nicht zu sagen. Wir haben hier nur Drogenhändler, Mörder und Politische. Die Drogenhändler bekommen alle sechsunddreißig Jahre, die Mörder lebenslänglich und die Politischen verschiedene Strafen.

    Wenn Zellendurchsuchung ist, werfen wir unsere Waffen auf die Betten der Mörder, ihnen macht es nichts, wenn sie drei Jahre mehr bekommen wegen unerlaubten Waffenbesitzes. Sie kommen sowieso nicht wieder heraus. Es sei denn, dass es eine Amnestie gibt. Fast jeden Tag wird gemunkelt, es gäbe bald eine neue Amnestie. Das ist ein großes Thema hier. Und dass bald neue Gefängnisse gebaut werden sollen, mit kleinen Zellen für höchstens drei Gefangene oder sogar mit Einzelzellen. Solche Zellen nennen wir Särge. Wir wollen keine Zellen wie zu Musa Anters Zeiten. Alle haben Angst davor, denn wenn wir

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