Parallelgeschichten
diese fremden Düfte, abstoßend oder süß, sind unglaublich hartnäckig.
Manchmal riechen sie am nächsten Tag noch so durchdringend, als klebten sie an den Härchen in der Nase, und man kann nicht anders, man gibt dem sündigen Reiz nach und geht zu seiner Quelle zurück. Dr. Kienast hatte sehr früh geheiratet, genauso bald war er wieder geschieden, seiner Seitensprünge wegen. Und wie er in der Gegenwart des Toten durchaus angenehm von seinen süßen Rückfällen träumte, fiel ihm jene kluge Frau mit der heiseren Stimme ein, von der niemand geahnt hätte, dass sie heimlich einen wahnwitzigen, leidenschaftlichen Kampf gegen ihre Hässlichkeit führte und zu diesem Zweck ein Arsenal an Duftwässern, Cremes, Gesichtslotionen, Badezusätzen, Lippenstiften und Pudern in den abschließbaren Regalen ihres geräumigen Badezimmers verwahrte, obwohl sie von Berufs wegen mit der Beurteilung von Düften befasst war und also den Kosmetika gegenüber eigentlich hätte skeptischer sein müssen. Sie hätte wissen müssen, dass die nicht viel brachten. Sie also würde es ihm sicher sagen können. Bestimmt würde sie den schweren Duft mit seinen versteckten herben Aromen erkennen, dachte er, und dieser Gedanke drängte ihn, sich den dunkelblauen Wollpullover des toten Mannes an die Nase zu halten. Vielleicht kam ja auch er darauf.
Möglicherweise war ihm die Frau nur deshalb eingefallen, weil er den Duft von ihrem Körper her kannte.
Er meinte die Anspannung ihrer Sehnen, das feine, verhaltene Zittern ihrer Muskeln zu spüren.
Der Körper vergisst nicht.
Diese Frau kam jeweils stumm nach Luft schnappend zum Höhepunkt, erst ein paar Augenblicke später, wenn es schon vorbei war, brüllte sie los, auch dann noch so, als wolle sie den Schrei zurückhalten. Doch nein, am dunkelblauen Pullover war der Duft des Parfüms kaum wahrnehmbar, der war eher vom Rauch durchdrungen.
Dann aber kam der Duft doch vom Körper.
Aus dem Raum mit dem kalten Neonlicht führten zwei Schwingtüren auf die Gänge hinaus. Durch die eine wurden die Leichen hereingeschoben, durch die andere in den Kühlraum weitergerollt, von dort dann zur offiziellen Autopsie. Die Flügel der einen Schwingtür ratterten leise gegeneinander, offenbar stand irgendwo ein Fenster offen.
Auf dem Gang keine Schritte. Während Dr. Kienast hinaushorchte, begann neben ihm auf dem fremden Schreibtisch das Telefon zu klingeln, er zuckte ein wenig zusammen, es klingelte, aber er ging nicht dran.
Es war nicht das erste Mal, dass ihn seine berufliche Neugier in eine kritische Lage brachte, zuweilen musste er seinen eigenen guten Geschmack verletzen oder sogar gegen die Gesetze verstoßen. Wie sonst hätte er sich in die Gedankengänge Krimineller versetzen können, wozu sonst hätte er diese Laufbahn gewählt. Er legte den Pullover hin, nahm das blauweiß gestreifte Hemd in die Hand und konnte jetzt schon mit völliger Gewissheit sagen, dass der unbekannte Mann den letzten Tag seines Lebens nicht in diesem Hemd und wahrscheinlich nicht in diesem Pullover verbracht, sondern sich am Nachmittag umgezogen hatte beziehungsweise am frühen Abend, wie er sich rasch korrigierte. So etwas ist ganz einfach. Man riecht an den Sachen noch das Waschpulver und den Weichspüler, eventuell das Duftsäckchen aus dem Kleiderschrank. Seine letzten Stunden hatte der Mann bestimmt an einem verrauchten Ort verbracht, in einer Kneipe, Bar oder einem billigen Wirtshaus, an einem Ort jedenfalls, der nicht zu seinem gesellschaftlichen Status passte.
Das Parfüm war nur am unteren Drittel der Hemdschöße und an der Unterhose zu riechen. Hier nahm er auch den Geruch des rasch verfallenden Spermas wahr. Das Telefon läutete immer noch, sonst regte sich nichts. Kienast stellte sich an die Füße des Leichnams und berührte den einen Fuß des Toten, als bäte er die sterbliche Hülle des Mitmenschen um Verzeihung für das, was er jetzt tun würde, dann beugte er sich über dessen Leiste. In dem Augenblick verstummte das Telefon, wieder hörte man die Flügel der Schwingtür im Luftzug hilflos gegeneinanderrattern. Er schloss die Augen, vielleicht unwillkürlich oder vielleicht, weil er das Geschlechtsteil des Toten nicht von so nahem sehen wollte, wenn er schon daran roch. Sogleich schlug ihm der durchdringende Penisgeruch entgegen. Im Übrigen war alles so, wie er es erwartet hatte. Dieser Penis war höchstens zum oralen Geschlechtsverkehr gebraucht worden, nicht zum vaginalen oder analen, der
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