Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Parallelgeschichten

Parallelgeschichten

Titel: Parallelgeschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Nádas
Vom Netzwerk:
und Kot schmutziger menschlicher Lumpenhaufen. Beide Beine am Knie amputiert, die Verbände blutig oder nassschwarz. Sich einmal auf den Rücken, einmal auf den Bauch drehend kroch er vorwärts wie eine Raupe.
    Sie standen da, den Durst und die unterbrochenen Sätze im Mund, und starrten ihn an. Er blieb mit dem Rumpf auf dem Rücken liegen, als hätte er sich vergeblich aufsetzen wollen, aber er lebte.
    Die Dämmerung rötete den Himmel hinter dem Aufblitzen ferner Artillerie, aber das Mündungsfeuer war von keinem Ton mehr begleitet. Über ihren Köpfen kreischten Möwen, sie würden lebendiges Menschenfleisch fressen. Man konnte sich nirgendwohin wenden. Der Zugführer gab einen lauten, deutlichen Befehl, sie sollen den Brunnen ausschöpfen.
    Nicht einmal der gleichgültige ferne Himmel hätte einen Sinn darin gesehen. Seitdem sie hungernd, dürstend, durchnässt und weinend einen Fluchtweg suchten, ließ Fervega keinen Augenblick ohne einen Befehl verstreichen.
    Dann machte er sich mit langen Schritten in Richtung des Verwundeten auf, und während endlich jemand Anstalten machte, dem jetzt noch sinnlos scheinenden Befehl Folge zu leisten, griff er mit beiden Armen dem Deutschen unter die Achseln und schleppte ihn zur Gebäudewand zurück. Der Verwundete schrie vor Schmerzen, sein Kopf kippte hintenüber. Mit blindem Blick starrte er dem Feldwebel ins Gesicht. Trotzdem sah Fervega in diesem Augenblick, dass etwas von ihm erwartet wurde, was noch nie jemand von ihm erwartet hatte. Vielleicht bat er um Wasser, vielleicht flehte er um den Tod, in seiner fremden Sprache, sofern das noch Sprache war, was zwischen seinen wunden Lippen und aus seiner ausgedörrten Kehle herauskam.
    Sie alle kamen aus der Tiefebene, kannten kein einziges Wort in einer fremden Sprache.
    Neben Bizsók murmelte in diesem Moment jemand, wenn du es nicht tust, Fervega, erschieße ich ihn.
    Fervega antwortete nicht, sondern sagte, die auf der Straße abziehenden Panzer beobachtend, das können nur Amerikaner oder Engländer sein.
    Gib den Befehl, sagte der andere heiser.
    Da hielten auch diejenigen inne, die bisher mit einer Stange im Brunnen nach Leichen oder Tierkadavern gestochert hatten.
    Der Brunnen war nicht tief, sie sagten zu Fervega, sie hätten jedenfalls nichts gefunden.
    Der an der Wand lehnende Verwundete war stumm, aber er lebte.
    Bis es dunkelte, hatte einer von ihnen sogar in den Brunnen hinuntersteigen können, um beim Licht der Taschenlampe mit seinem Sturmspaten den morastigen Brunnengrund auszuheben. Sie fragten nicht, wie viel Zeit vergehen müsse, bis frisches Wasser heraufsprudelte.
    Bis es dunkelte, hatten drei weitere zusammen mit dem Zugführer zwischen den Sterbenden die Toten aus dem Gebäude geholt.
    Bizsók verschonte er mit dieser Aufgabe. Bevor es ganz dunkel wurde, schickte er ihn mit zwei anderen auf einen Erkundungsgang. Sie waren sich in den vergangenen Tagen nicht von der Seite gewichen, mussten in der gemeinsamen Körperwärme schlafen.
    Im scharfen Widerschein der fernen Mündungsfeuer blitzte immer wieder das wüste Gelände auf, breitete sich mit raschem Aufleuchten vor ihnen aus. Danach war die Dunkelheit mit dem Trugbild der stummen Landschaft erfüllt.
    Immer wieder stolperten sie über einsame Grasbüschel.
    Bizsók ging vorn. Ihn bedrückte der Gedanke, dass sie vielleicht nie mehr zu den anderen zurückfinden würden. Und überhaupt, was konnten sie für einen Bericht mitbringen, im Dunkeln nichts gesehen, oder was. Der Wind schlug ihnen scharf Sand und feinen Sprühregen ins Gesicht. In windstillen Momenten war das Brummen ferner Marschkolonnen zu hören. Aber so nahe sie auch herankamen, von den Fahrzeugen war nichts zu sehen. Die fuhren wahrscheinlich ganz langsam mit abgeblendeten Scheinwerfern. Die drei hielten sich keuchend an den Lärm, aber auch die abgeblendeten Lichter bekamen sie nicht zu Gesicht.
    Bis Bizsók merkte, dass er keine Straße und keine abgeblendeten Lichter erblicken würde, vor ihnen lag das Meer.
    Im blassen Blitzen der Mündungsfeuer wieder die endlose Einöde, er konnte noch so lange daraufstarren. Oder Nebel. Der Wind schlug ihnen da schon mit diesem irrsinnigen Pfeifen ums Gesicht, fuhr ihnen durch die Kleidung, über ihre Wangen floss Wasser. Bizsók bückte sich, er hatte eine Veränderung des Terrains unter seinen Füßen gespürt, das Wasser sog ihm den nassen Sand aus der Hand. Warf ihm Schaum an den Kopf, an den Körper. Das, was sie nicht sehen konnten, tobte

Weitere Kostenlose Bücher