Rabenzauber
1
» E s ist jetzt nicht mehr weit, Junge«, sagte Tier. »Das da vorn ist Rauch und nicht bloß Nebel - wir werden ein gemütliches Dorfgasthaus finden, wo wir uns aufwärmen können.«
Sein Pferd schnaubte zur Antwort - oder war es nur wegen eines lästigen Regentropfens? - und trabte weiter.
Tiers Pferd war ebenso wie sein Schwert von erheblich besserer Qualität als seine Kleidung. Er hatte beides von Männern erbeutet, die er getötet hatte; das Schwert in seinem ersten Kriegsjahr, das Pferd in diesem Jahr, als sein eigenes Reittier unter ihm niedergestreckt worden war. Scheck war ein Schlachtross, gezüchtet und ausgebildet für einen adligen Offizier, aber er hatte Tier, den Sohn eines Bäckers, jetzt schon durch zwei Schlachten, sechs Scharmützel und grob gerechnet über tausend Wegmeilen getragen.
Er war ein wertvolles Pferd, aber in den ersten paar Wochen von Tiers Reise, die ihn durch vom langen Krieg verwüstete Regionen führte, hatte der Neid in den Augen der Menschen ebenso viel mit Hunger wie mit Gold zu tun gehabt. Tier hatte gespannt darauf gewartet, dass sie ihn überfielen oder ihn in einen Hinterhalt lockten. Aber etwas an seiner Haltung, vielleicht die Kampfbereitschaft, die immer noch hinter der ruhigen Fassade lauerte, musste sie abgeschreckt haben.
In den wohlhabenderen Regionen weiter entfernt von den Reichsgrenzen ließ die Gefahr eines Angriffs dann leider beträchtlich
nach. Dabei hätte ein Kampf Tier vielleicht ein wenig Ablenkung von der Furcht verschafft, die er beim Gedanken an seine baldige Heimkehr empfand.
So viele waren tot. Die beiden jungen Männer aus seinem Dorf, die sich zusammen mit ihm für einen Krieg gemeldet hatten, der einen halben Kontinent von zu Hause entfernt stattfand, waren gefallen, ebenso wie viele andere junge Männer, die sich Gold, Ruhm oder eine Fluchtmöglichkeit erhofft hatten. Tier hatte überlebt. Er war sich immer noch nicht ganz sicher, wie es dazu gekommen war - denn geplant hatte er es ganz bestimmt nicht. Zwar hatte er den Tod nie gesucht, aber ein Soldat wusste, dass es ihn jederzeit treffen konnte.
Wenn der Krieg ewig gedauert hätte, hätte Tier bis zum Tod gekämpft. Aber nun war er vorbei, und er hatte den Posten, den sein kommandierender Sept ihm angeboten hatte, abgelehnt. Er hatte wirklich kein Bedürfnis, noch mehr junge Männer für den Kampf auszubilden.
Also ritt er nun nach Hause. Der Junge, der sich vor beinahe einem Jahrzehnt aus dem Heim seiner Familie geschlichen hatte, hätte sich nie träumen lassen, dass die Rückkehr so viel schwieriger sein würde als der Aufbruch.
Tiers massiger Wallach schüttelte die schwarz-weiße Mähne und übersprühte seinen Reiter mit Wasser. Er tätschelte dem Pferd den Hals.
»Was habe ich dir gesagt, Scheck?«, meinte er. »Da unten gibt es ein Dach; du kannst es zwischen den Bäumen sehen.«
Er freute sich auf einen warmen Schankraum, durchflutet von Lärm und Bier - etwas, womit er seine innere Leere füllen konnte. Vielleicht würde ein bisschen von der guten Laune an ihm hängen bleiben, bis er sein Dorf erreichte.
Er kam seiner Heimat näher. Selbst ohne Landkarte wäre der bittere Geschmack der Alten Magie, der die Berge hier erfüllte,
vielsagend genug gewesen. Der Kampf selbst mochte lange vorüber sein, aber die Magie eines Zauberers blieb manchmal noch länger erhalten als die Erinnerung an ihn, und der Schatten war ein großer Zauberer gewesen. In der Nähe des Schlachtfelds von Schattenfall konnte es gefährlich sein, durch den Wald zu reiten. In Tiers Heimatdorf Redern wussten alle, dass man Orte, an denen die Magie des Schattens verharrte, lieber mied.
Der braun-weiß gescheckte Wallach interessierte sich nicht für Magie jedweder Art und trabte weiter den schmalen Bergweg hinunter, und als der Hang sanfter wurde, bog er auf einen Feldweg ein, der sich seinerseits bald schon in eine kopfsteingepflasterte Straße verwandelte. Kurz darauf tauchte das kleine Dorf, das Tier von den Hügeln aus gesehen hatte, zwischen den Bäumen auf.
Die nassen Steinhäuser, so anders als die Holzhäuser, an denen er in den letzten neun Jahren vorbeigeritten war, erinnerten ihn an zu Hause, obwohl der Baustil hier weniger schroff wirkte als in seinem eigenen Dorf. Es war noch nicht daheim, aber es war ein richtiges Dorf. Es würde einen Marktplatz geben, und dort würde das Gasthaus stehen.
Er stellte sich einen kleinen, warmen Raum vor, in das goldene Licht von Feuerstelle und Fackeln
Weitere Kostenlose Bücher