Paranormal - Fuenf Romane mit Patricia Vanhelsing
und so hatten wir nicht einmal die Möglichkeit, uns mit Koffein wieder etwas wacher zu machen. Tom ging auf direktem Weg ins Labor, um seine Bilder zu entwickeln, und ich machte mich auf die Suche nach Harry Warren. Swann versuchte ich soweit es ging aus dem Weg zu gehen. Mit ihm wollte ich erst sprechen, wenn ich ein fertiges Phantombild vorliegen hatte, von dem ich dann behaupten konnte, es sei mir anonym zugespielt worden. Kelly J. Maddox meinte zwar, dass Harry bereits nicht mehr im Verlagsgebäude sei, aber ich fand ich schließlich doch noch. Er war gerade dabei, den Rechner des Archivs von einem tückischen Computervirus zu befreien, der langsam aber sicher dabei war, unsere Datenbanken aufzufressen.
"Hallo, Patti, was kann ich für dich tun?", meinte Harry. Er war erst neunzehn, hochgewachsen und sehr schlaksig. Seine Brillengläser waren beinahe flaschendick. Aber trotz seines jugendlichen Alters verstand er mehr von Computern als der gesamte Rest der NEWS-Mannschaft zusammen.
"Hallo, Harry", erwiderte ich und erklärte ihm so knapp wie möglich, was ich brauchte.
"Ein Phantombild?"
"So etwas müsste doch prinzipiell mit unseren Graphik-Programmen möglich sein."
"Sicher..."
"Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht so dringend wäre, Harry. Das Bild muss in die morgige Ausgabe der NEWS..."
Harry atmete tief durch. "Meine Arbeitszeit ist für heute eigentlich längst um, aber..."
"Lass das bloß Swann nicht hören! Für den ist man rund um die Uhr bei den NEWS."
Harry Warren lachte kurz auf. "Ja, das habe ich in der kurzen Zeit, in der ich jetzt hier bin, schon zu spüren gekriegt. Nur gut, dass er so schnell für mich keinen Ersatz finden kann!"
*
Es war sehr spät, als ich an diesem Abend zur Vanhelsing Villa zurückkehrte. Swann hatte meinen Artikel und das Phantombild unkommentiert durchgehen lassen. Das hieß, dass es am nächsten Tag auf den Seiten der LONDON EXPRESS NEWS zu sehen sein würde, zusammen mit einer Telefonnummer. Jeder, der den abgebildeten Mann kannte, sollte sich melden. Ich fuhr den 190er in die Einfahrt vor der verwinkelten Vanhelsing-Villa hinein, stieg aus und ging zur Tür. Einen Augenblick zögerte ich, ehe ich den Schlüssel herumdrehte. Seit meinem zwölften Lebensjahr lebte ich in diesem Haus und der Gedanke, dass diese Zeit nun wohl unweigerlich ihrem Ende entgegenging, ließ mich etwas innehalten. Es wird dir fehlen, diese Mischung aus Gespensterschloss und Museum, dachte ich. Die langen Bücherregale, in den sich ein staubiger Foliant an den anderen drängte. Die Geistermasken, die einen überall in den Fluren überraschen konnten und jedem Betrachter ihren maskenhaften, starren Blick entgegenbrachten...
Als Jugendliche hatte ich mir oft genug gewünscht, in einem normalen Haus leben zu können - und nicht fortwährend von grimmigen Dämonengesichtern angestarrt zu werden, die zusammen mit den zahllosen Fetischen, Schrumpfköpfen und Kristallkugeln ein einzigartiges Panoptikum des Okkulten ergaben. Die Räume, die ich bewohnte, lagen im Obergeschoss. Sie stellten eine okkultfreie Zone dar, wie ich es bezeichnete. Tante Lizzy hatte das zwar zunächst nur schwer verstehen können, es aber schließlich akzeptiert. Für sie hingegen gab es keine Trennung zwischen Privatleben und ihren Studien, denen sie sich mit ganzer Kraft widmete. Ich öffnete die Tür und betrat das düstere Halbdunkel des Flures.
Der Eingang zur Bibliothek stand halb offen. Licht drang von dort hervor.
Und Stimmen.
Ich erkannte sie sofort. Tante Lizzy unterhielt sich mit niemand anderem als meinem Kollegen Jim Field, der ja nach wie vor eines der Gästezimmer bewohnte. Die Unterhaltung verebbte im nächsten Moment. Die Bibliothekstür wurde zur Gänze geöffnet und Jims hoch aufgeschossene Gestalt trat in den Flur.
"Ah, du bist es Patti! Deine Großtante und ich haben schon überlegt, ob du vielleicht Ambitionen auf den Posten des Chefredakteurs hast und dir schon mal den Tagesablauf von Mr. Swann angewöhnen möchtest!"
Ich hob abwehrend die Hand.
"Keine Sorge, in diese Richtung habe ich keinerlei Ambitionen..."
Jim grinste.
"Na, um so besser! Dann steht mir auf dem Weg an die Spitze ja wohl niemand mehr im Weg!"
"Ja, wenn du damit solange warten willst, bis Mr. Swann im Ruhestand ist!"
Er kratzte sich am Kinn. "Das habe ich nicht so genau nachgerechnet, aber ein paar Jahrzehnte dürften das noch sein. Naja, in Mathematik war ich noch nie besonders gut. Sonst
Weitere Kostenlose Bücher