Paris im 20. Jahrhundert
darüber hinaus mußte der Ansuchende sein Alter, seinen Wohnort, seinen Beruf und den Zweck seiner Nachforschungen angeben.
Michel befolgte die Vorschriften und übergab seinen mustergültig ausgefüllten Bestellschein dem schlafenden Bibliothekar; nach dessen Vorbild schnarchten auch die Saalburschen ganz entsetzlich auf ihren an der Wand lehnenden Stühlen; ihre Aufgaben waren zu einer ebenso vollkommenen Sinekure geworden wie die Aufgaben der Platzanweiser im Odéon.
Der aus dem Schlaf hochgeschreckte Bibliothekar nahm den waghalsigen jungen Mann in Augenschein; er las den Bestellschein, und die Anfrage schien ihn zu erstaunen; nachdem er lange überlegt hatte, verwies er Michel zu dessen großem Schrecken an einen subalternen Angestellten, der in der Nähe seines Fensters an einem einsamen kleinen Schreibtisch arbeitete.
Michel stand einem siebzigjährigen Mann gegenüber, mit aufgewecktem Blick, lächelndem Gesicht und dem Aussehen eines Gelehrten, der meint, nichts zu wissen. Dieser bescheidene Angestellte nahm den Schein und las ihn aufmerksam durch.
»Sie bestellen Autoren des 19. Jahrhunderts«, sagte er; »das macht ihnen viel Ehre; uns wird es erlauben, sie abzustauben. Also, Monsieur … Michel Dufrénoy?«
Bei diesem Namen hob der Alte lebhaft den Kopf.
»Sie sind Michel Dufrénoy!« rief er. »Tatsächlich, ich hatte Sie noch nicht angeschaut!«
»Sie kennen mich? …«
»Und ob ich Sie kenne! …«
Der Alte konnte nicht weitersprechen; echte Rührung zeichnete sich auf seinem gutmütigen Gesicht ab; er streckte Michel die Hand hin, und voller Zutrauen drückte dieser sie herzlich.
»Ich bin dein Onkel«, sagte der gute Mann schließlich, »dein alter Onkel Huguenin, der Bruder deiner armen Mutter.«
»Mein Onkel! Ihr!« rief Michel ergriffen.
»Du kennst mich nicht! Aber ich kenne dich, mein Kind! Ich war dabei, als du deinen wundervollen Preis für lateinische Verse errungen hast! Mein Herz schlug heftig, und du hast nichts davon geahnt!«
»Mein Onkel!«
»Dich trifft keine Schuld, mein liebes Kind, das weiß ich! Ich hielt mich abseits, fern von dir, um dir bei der Familie deiner Tante nicht zu schaden; aber ich habe deine schulische Laufbahn Schritt für Schritt, Tag für Tag verfolgt! Ich sagte mir: es ist nicht möglich, daß das Kind meiner Schwester, der Sohn eines großen Künstlers, nichts von den poetischen Instinkten seines Vaters geerbt haben sollte, und ich habe mich nicht getäuscht, denn du kommst hierher, um nach den großen Dichtern Frankreichs zu fragen! Ja, mein Kind! Ich werde sie dir geben! Wir werden sie gemeinsam lesen! Niemand wird uns dabei stören! Niemand schaut zu uns her! Laß dich zum ersten Mal küssen!«
Der Alte schloß den jungen Mann in die Arme, und dieser fühlte sich unter seinen Umarmungen aufleben. Es war die süßeste Gefühlsregung, die er bis dahin in seinem Leben gespürt hatte.
»Aber, teurer Onkel«, fragte er, »wie konntet Ihr euch über meine Kindheit auf dem laufenden halten?«
»Mein lieber Sohn, ich habe einen guten Menschen zum Freund, der dir wohlgesinnt ist, dein Professor Richelot, und durch ihn habe ich erfahren, daß du einer der unseren bist! Ich habe dich am Werk gesehen! Ich habe deine Examensarbeit in lateinischen Versen gelesen; ein eher schwer zu behandelndes Thema, zum Beispiel wegen der Eigennamen:
Marschall Pélissier auf dem Turm von Malakow.
Die alten historischen Themen sind eben immer noch in Mode, und du hast dich wahrhaftig nicht schlecht aus der Affäre gezogen!«
»Oh!« meinte Michel.
»Nein, nein«, fuhr der alte Gelehrte fort, »du hast aus Pelissierus zwei lange und zwei kurze gemacht, eine kurze und zwei lange aus Malakoff, und du hattest recht damit! Hör nur! Ich habe mir diese zwei schönen Verse gemerkt:
Iam Pelissiero pendenti ex turre Malacoff
Sebastopolitam concedit Iupiter urbem …
1
Ach! mein Kind, wenn es diese Familie nicht gäbe, die mich verachtet und die letzten Endes deine Erziehung bezahlt hat, wie viele Male hätte ich deine wunderbaren Eingebungen ermutigen wollen! Aber jetzt wirst du mich besuchen, und noch dazu oft!«
»Jeden Abend, lieber Onkel, während meiner freien Stunden.«
»Aber mir scheint, daß deine Ferien …«
»Ferien, lieber Onkel! Morgen früh trete ich meine Arbeit im Bankhaus meines Cousins an!«
»Du! In einem Bankhaus!« rief der Alte. »Du! Ein Geschäftsmann! Aber es ist ja wahr! Was sollte aus dir werden? Ein armer Kerl wie ich kann dir nicht
Weitere Kostenlose Bücher