Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Patentöchter

Patentöchter

Titel: Patentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Albrecht & Corinna Ponto
Vom Netzwerk:
und Sorge. Und an ein bodenloses Vermissen, ein ungläubiges Geschehenlassen.
    Meine Schwester war aus der Welt gefallen. Das war für mich als Kind kaum zu verkraften. Und wenn ich mir heute vorstelle, wie das für meine Eltern gewesen sein muss, weiß ich nicht, wie sie damit haben leben können.
    Wir wussten zu keinem Zeitpunkt mehr als die Öffentlichkeit. Bis zu ihrer Festnahme 13 Jahre später hat meine Familie nicht gewusst, was aus Susanne geworden war. Kein wahrheitsgemäßer Hinweis auf ihren Verbleib hat uns je erreicht. Nach der Tat war meine Schwester eine Gejagte. Die ganze Welt schien sie zu suchen. Sie war die einzige Terroristin, die ihren eigenen Namen unter ein Bekennerschreiben gesetzt und damit ihre Teilnahme an dem Attentat dokumentiert hatte. Es war ihr Name, der in den Nachrichten im Zusammenhang mit der Ermordung von Jürgen Ponto genannt wurde. Und es war ihr Bild, das dazu gezeigt wurde. Sie galt als gefährlich. Für ihre Ergreifung wurden Belohnungen ausgesetzt. Über Wochen prangte sie auf den Titelseiten der Zeitungen. Ihre Tat galt als besonders verwerflich. Die Niedertracht des Verrats an der befreundeten Familie stand im Zentrum.
    Das war nicht meine Perspektive. Ich vermisste sie. Ich sehnte mich nach ihr und nach einer Erklärung, was passiert war. Vage kommt mir in den Sinn, dass meine Mutter mich in der Zeit unmittelbar nach der Tat damit zu trösten versuchte, dass sie sagte: »Warte mal ab. Bevor das Jahr rum ist, werden wir sie wiedersehen.« Darauf vertraute ich nicht.
    Meine Eltern erstarrten innerlich und äußerlich. Mein Vater reagierte mit Herzrhythmusstörungen. Er habe, das erzählten mir Freunde der Eltern später, in dieser Zeit immer wieder dieselbe Frage gestellt: »Wieso hat sie nicht mich umgebracht?« Er verstand die Tat als Vernichtung seiner selbst. Als einen Angriff, dem er schutzlos ausgesetzt war, weil er keine Erklärung für die Tat, für den Verrat hatte.
    Der Spiegel, der neun Tage nach der Tat erschien, hatte auf dem Cover ein seitenfüllendes, angeschnittenes Bild, das das Gesicht meiner Schwester zeigte. Haut, Haare und Hintergrund waren rot eingefärbt. Das Titelthema der Ausgabe lautete: »Frauen und Gewalt«. Darin findet sich ein Artikel von Gerhard Mauz, Spiegel – Reporter und befreundet mit meinen Eltern, in dem er eine Antwort auf die Frage meines Vaters sucht: »Warum Susanne nicht ihn, ihren Vater, erschossen hat, fragt sich der Hamburger Rechtsanwalt Dr. Hans-Christian Albrecht. Die Antwort, aber auch nur diese eine Antwort auf zahllose Fragen, ist leicht. Fürchterlicher als dadurch, dass sie an einem Attentat auf seinen Freund mitwirkte, hat Susanne Albrecht ihren Vater nicht treffen können. (…) Kinder, die in besonderem Maße demonstrieren wollen, [gehen] nicht den Weg des direkten Angriffs auf die Eltern. Sie fügen ihnen vielmehr etwas zu, was die Eltern unweigerlich erleben und erleiden müssen.«
    Wie geht man damit um, wenn jemand verschwindet? Meine Erfahrung ist, dass es keinen Umgang damit gibt. Es ist, im gewissen Sinne, eine nicht aufhören wollende Traumatisierung. Für mich jedenfalls war es so. Susannes Abwesenheit gab mir etwas zutiefst Widersprüchliches auf. Ihre Abwesenheit bedeutete, dass wir sie nicht aufgeben durften. Sie lebte noch, das hofften wir und daran klammerten wir uns. Und solange wir nicht davon hören würden, dass sie ums Leben gekommen war, würden wir daran festhalten.
    Zugleich aber gab die Situation mir auf, mit ihrem Verschwinden zu leben. Mit der Abwesenheit zu leben und diese auszuhalten.
    Gleichzeitig daran zu glauben, dass sie noch lebte, und ihre Abwesenheit zu akzeptieren war eine unlösbare Aufgabe für mich. Es gab weder konkret noch symbolisch einen Ort – wie etwa ein Grab –, an dem ich diese Abwesenheit in mein Leben hätte integrieren können. Die Abwesenheit war das, was an mir riss, viel mehr als die Tat, die sie begangen hatte. Ich, und ich denke, auch Teile meiner Familie und auch Freunde meiner Eltern, schützte mich gegen den Rest der Welt durch die Hoffnung, dass sie leben und wieder auftauchen und uns erklären würde, was geschehen war. Wir waren verbannt in ein Warten. Solange sie abwesendwar, gab es für mich keine Auseinandersetzung damit, was sie getan hatte. Zumindest keine wirkliche. Wir waren nicht in der Lage, uns dem, was wir wussten, wirklich zu stellen und zu reflektieren, was es bedeutete, dass meine Schwester ein Mitglied der RAF war. Das begann erst nach

Weitere Kostenlose Bücher