Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
ihre Tage gezählt waren – ein Augenblick von ganz eigener Stille, da bin ich sicher. Und in dieser Ruhe erkannte sie, dass eine große Lüge hatte Wurzeln schlagen können und dass sie ihr Leben bestimmen würde, wenn sie nichts dagegen unternahm. Das Problem war natürlich, dass es zu spät war. Ihre Mutter hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie hatte getan, was Riley wollte. Und ich glaube, in diesem Stadium wird Elizabeth’ Geschichte zu dem, was mein Vater einen Knüller genannt hätte. Sie beschloss, die Vergangenheit zu ändern, indem sie veränderte, wie alles enden würde.«
Der Mönch lächelte ermutigend. Er stand auf und schlug mit einer Kopfbewegung einen Spaziergang vor. Schweigend gingen sie am Lark entlang und über eine schmale Fußgängerbrücke. Auf der anderen Seite betraten sie ein hart gefrorenes Feld. Weglos folgten sie einer Furche in Richtung auf die Nebelbank.
»Wie Sie wissen, heckte Ihre Mutter zwei Pläne aus«, erklärte Pater Anselm. »Der erste war für George: Er sollte es ihm ermöglichen, dem Mann, der für den Tod seines Sohnes verantwortlich war, den guten Ruf zu nehmen. Sie gab sich alle erdenkliche Mühe, dem Plan zum Erfolg zu verhelfen, weil sie damit sein Selbstwertgefühl wiederherzustellen hoffte. Aber ich bin sicher, ein Großteil ihrer Energie erwuchs aus dem Verlangen, Riley für irgendein Vergehen dieser Art, so trivial es in den Augen des Gerichts auch erscheinen mochte, verurteilt zu sehen und zu beweisen, dass er ein Zuhälter war. Dieser Erfolg blieb ihr versagt. Sie scheiterte.
Der zweite Plan war für sie selbst: Sie wollte Riley vor Gericht bringen für einen Mord, bei dessen Strafvereitelung sie geholfen hatte. Dazu musste Elizabeth ihre Mutter überreden, das, was sie wusste, der Polizei zu sagen. Auch das gelang ihr nicht.«
Sie hatten die Mitte des Feldes erreicht und blieben stehen. Über ihren Köpfen wälzte sich der Nebel dahin.
»Man könnte wohl zu Recht behaupten, dass ich ihr Notfallplan war«, sagte Pater Anselm trocken. »Und auch ich habe auf ganzer Linie versagt.« Er schaute Nick freundlich fragend an.
»Wer hat meine Großmutter überredet auszusagen«, fragte Nick. Ob es ihm gefiel oder nicht, fühlte er sich als Teil der Geschichte, als ob sie ihn beträfe.
»Das waren Sie«, antwortete Pater Anselm mit ruhigem Nachdruck. »Sie wollte nicht, dass Sie eine Lüge leben – wie sie und ihre Kinder es getan haben. Denn niemand kannte den Preis einer Lüge besser als Ihre Großmutter.«
Der Mönch ging ziellos weiter und bewegte mit verhaltener Erregung die Hände.
»Erst als ich Mrs. Dixon traf, begriff ich die Bedeutung dessen, was Elizabeth sich vorgenommen hatte«, erklärte er. »Als sie sich entschlossen hatte, ihre Vergangenheit zurückzuerobern, stand ihr als einziges Mittel eben das Rechtssystem zur Verfügung, das sie aufgegeben hatte. Mit jedem dieser beiden Pläne hoffte sie also, die Gerechtigkeit an sich wiederherzustellen. Sie erkannte von neuem – dessen bin ich mir sicher –, dass die Rechtsordnung wichtig ist, dass unsere Versuche, Verbrechen zu bestrafen, wichtig sind, dass Gnade, so unbeholfen sie auch sein mag, wichtig ist.« Pater Anselm schlang seinen Umhang fester um sich und schaute Nick an. »Ein Mann wurde getötet – Ihr Großvater. Ob er nun brutal war oder nicht, ihm wurde das Leben genommen. Es ist Ironie des Schicksals, dass er ohnehin jeden Moment hätte tot umfallen können. Aber das spielt keine Rolle: Mord ist Mord – sei es an Walter oder an John. Diese Wahrheit ans Licht zu bringen war das Bestreben Ihrer Mutter. Es ist ihr gelungen – aber nicht aus eigener Kraft.« Er stockte, um nachzudenken. »Nick, wenn ich Ihnen etwas sagen kann, von dem ich sicher bin, dass ich auch morgen noch dazu stehe, dann ist es das: Ist es nicht passend, dass Sie das für Ihre Mutter bewirkt haben … und nicht so ein stümperhafter Trottel wie ich?«
Nick musste wider Willen grinsen und stimmte zu.
»Und wer könnte Ihrem Vater besser helfen, das zu verstehen, als der Sohn, den er behüten wollte«, fuhr der Mönch fort.
Die Nebelbank hatte sich über das ganze Tal gebreitet. Sie ring das Sonnenlicht zum Greifen nah ein. Sie gingen darunter her und kamen wieder an der Bank vorbei, an der Elizabeth Pater Anselm den Schlüssel gegeben hatte. Langsam folgten sie dem Weg zu den Pflaumenbäumen und Elizabeth’ gelbem Wagen.
»Darf ich Sie etwas fragen?«, sagte Nick.
»Sicher.«
»Was ist das Geheimnis der
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