Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
KRONANWÄLTIN ELIZABETH GLENDINNING ging zielstrebig im Mile End Park am Regent’s Canal entlang auf einen Tapeziertisch voller Gerümpel aus den Häusern Verstorbener zu. Dahinter lümmelte sich Graham Riley in einem Campingstuhl und malmte mit den Kiefern, als hätte er Asche im Mund. Rechts von ihr brutzelten Würstchen und Zwiebeln auf einem Bratblech; eine Kaffeemaschine dampfte; Kleider hingen dicht an dicht auf Ständern; neben einem Schild mit der Aufschrift »Baustoffverwertung« lagen Teile aus Altbauten auf einer Decke; an einem verbeulten Transporter lehnten verrostete Arbeitsgeräte vergangener Zeiten. An alledem ging Elizabeth vorbei, ohne recht hinzusehen, den Blick auf den trägen Kanal zu ihrer Linken gerichtet, weg von Graham Riley.
Trotz jahrelangen Umgangs mit spannungsgeladenen Situationen fand Elizabeth die Anspannung heute Morgen unerträglich: Sie hatte zwei großartige Pläne ausgeheckt, diesen Mann auf dem Campingstuhl vor Gericht zu bringen, damit er sich für seine zahlreichen Opfer verantworten müsste. Der erste Plan stand nun nach monatelangen Vorbereitungen unmittelbar vor seiner Verwirklichung.
Ungläubig schaute Riley über den herbstlichen Trödelmarkt hinweg auf.
Elizabeth war elegant schwarz gekleidet. Sie trug kein Make-up. Der präzise Schnitt ihrer Haare zeugte von Fantasiepreisen. Die Anspannung machte ihre Haut blass und ihre Lippen seltsam blutleer.
Rileys Kiefer stand still. Er wirkte wie ein verängstigter Junge inmitten von zerbrochenem Spielzeug. Aber Elizabeth war über Mitleid schon lange hinaus; sie hatte den luftleeren Raum erreicht, wo Gerechtigkeit und Gnade sich treffen. Auf diesem Gipfelpunkt großer Mühen und Opfer hielt sie den Atem an und nahm einen Satz Silberlöffel.
Als Elizabeth den Weg am Kanal zurückstolperte, den sie gekommen war, wurde ihr plötzlich schwindelig, ihr Herz krampfte sich rasend zusammen. Fassungslos über ihre Nachlässigkeit ließ sie sich auf den Fahrersitz ihres zitronengelben VW Beetle fallen: Sie hatte die Fakten zusammengetragen, aber versäumt, die Rechtslage zu klären. Auf dem Beifahrersitz lag der orangefarbene Handzettel, der sie zu Rileys Stand geführt hatte. Mit zittriger Hand zerknüllte sie ihn und stopfte den Ball in den Aschenbecher. Ihr brach Schweiß aus, sie bekam Atemnot. In einer seltsamen Vorahnung nahm sie ihr Handy aus der Halterung am Armaturenbrett und rief Inspector Cartwright an, hinterließ ihr aber mit Bedacht nur eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Anschließend rief sie Mrs. Dixon an. Es kam wie ein Windstoß, mitten im Satz ließ Elizabeth das Handy fallen. In den schleppenden Sekunden, die ihr blieben, fand sie ein letztes, gewinnendes Lächeln.
Ja, sie war untröstlich. Sie würde Charles, ihren Mann, nie wiedersehen … er war in Smithfield Market und machte sich Sorgen um das Morgen; oder Nicholas, ihren unvorsichtigen Sohn … er war wahrscheinlich am Barrier-Riff zwischen leuchtend bunten Fischen; oder George, ihren Freund und Komplizen, der unter einer Feuerleiter wartete. Ja, was ihre großartigen Pläne anging, kam der Tod zu früh. Wie immer verdarb er alles. Aber Elizabeth konnte darüber lachen, und sie tat es.
Für genau diesen Fall hatte sie vorgesorgt. Und ein Plan stand noch aus – der weitreichendste, schwerwiegendste.
Ihr Herz wurde wunderbar ruhig.
Plötzlich wurde es Elizabeth kalt. Ihr war, als schwebe sie hoch über den Wolken und käme endlich wieder auf die Erde. Als sie im Sonnenlicht zusammenbrach, dachte sie: Jetzt ist die Stunde des ahnungslosen Freundes, des zerstreuten Mönchs, dem ich den Schlüssel gegeben habe.
TEIL 1
DER SCHLÜSSEL
1
ANSELM SCHLÄNGELTE SICH zwischen den Apfelbäumen von Samt Leonard’s Field zurück nach Larkwood. Während der Roller über Grassoden hüpfte, zog Anselm den Kopf ein und dachte an Steve McQueen am Ende des Films Gesprengte Ketten. Er hatte den Zaun vor Augen. In seinem lebhaften Tagtraum sah er sich auf der Flucht vor Feinden, die ihn ins Leichenhaus befördern wollten, über den Stacheldraht setzen.
Pfeifend schob Anselm seinen Roller in den alten Holzschuppen, wo er auf Bruder Louis, den Chorleiter, stieß.
»Hallo, wie war’s?«, fragte Anselm.
»Grässlich.« Er hatte einen zehntägigen Psycholehrgang besucht. »Ich musste über mich reden. Das Innerste nach außen kehren.«
»Ach du lieber Himmel.«
Louis setzte sich auf einen Baumstumpf. Durch seine Körpergröße sah es aus, als würde er sich
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