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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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elektrisierte: Tissue Engineering – die Züchtung menschlicher Gewebe im Labor. Er erinnerte sich an das Foto von der »Ohr-Maus«, das einige Jahre zuvor durch die Weltpresse gegangen war. Forscher aus Harvard hatten Knorpelzellen aus Rindern entnommen und sie in ein Polymergerüst gesät, das die Form eines menschlichen Ohrs hatte. Das Gerüst löste sich auf, übrig blieb eine Ohrmuschel aus Rinderzellen, die man auf den Rücken einer Maus verpflanzte. Ein gelungenes Experiment, jedoch ohne jeden medizinischen Nutzen. Der Gewebezüchtungs-Pionier Jay Vacanti hatte die scheinbare Maus-Chimäre nur für ein außergewöhnliches Symbolbild erschaffen. Das Foto sollte die mediale Aufmerksamkeit auf sein junges Forschungsgebiet lenken.
    Die Hoffnungen, die daraufhin manche in die neue Disziplin setzten, klangen megaloman, nach Gottspielen: Schon in zehn bis 20 Jahren wäre kein Kranker mehr darauf angewiesen, sich Lebern, Nieren oder Herzen eines Leichnams transplantieren zu lassen. Stattdessen müssten die Ärzte der Zukunft ihren Patienten nur ein wenige Millimeter großes Stück aus Muskeln oder Organen entnehmen und im Labor abgeben. Dort würden Gewebe-Ingenieure ihre kranken Organe neu erschaffen. Möglich wäre das, weil in jedem Körpergewebe Vorläuferzellen existierten, die in sich noch die Fähigkeit trügen, zu entscheiden, welche Funktion sie später in einem Organ übernehmen würden. Wenn man diese Zellen nur walten ließe, würden sie sich wie von Zauberhand, gesteuert von Botenstoffen, die sie selbst herstellten, zu strukturierten Geweben gruppieren und irgendwann, nach Wochen oder Monaten, ein fertiges Organ ergeben. Waltete hier ein Schöpfergott?, fuhr es Walles durch den Kopf. Eigentlich war er nicht religiös, aber was er las, versetzte ihn in Staunen. In ihm erwachte ein Feuer. Er, der in seiner Kindheit am liebsten aus den grauen Fischertechnik-Steinchen Brücken und Raumschiffe zusammengesetzt hatte, würde gerne einmal Organe bauen. Doch die Flammen loderten nur kurz, er vergaß es wieder. Später entschied er sich, Herzchirurg zu werden.
    An Fügungen glaubt Walles nicht, auch wenn es heute rückblickend magisch scheint, dass sein Chef von der Herzchirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover ihn einige Jahre später ausgerechnet Heike zuteilte mit den Worten: »Jeder, der bei uns bleiben will, muss forschen.« Heike Mertsching entwickelte sich gerade zu einer international führenden Forscherin im Tissue Engineering.
    Ihr gemeinsamer Chef interessierte sich in erster Linie für Herzklappen aus dem Labor, deshalb hatte er Heike eingestellt. Ihre Vision aber ging schon viel weiter, sie wollte es mit vielen Organen aufnehmen. Eine Frage trieb sie um, die bald zu einer zentralen Frage der Gewebezüchtung werden sollte: Wie groß darf ein künstliches Stück Gewebe sein, damit es nicht abstirbt, nachdem man es eingesetzt hat? Denn das echte, körpereigene Gewebe ist von feinsten Blutgefäßen durchzogen. Die fehlen im Ersatzstück. Aber die gezüchteten Zellen gieren genauso nach Sauerstoff, Zucker und anderen Nährstoffen wie die körpereigenen Zellen. Wenn sie nicht genug davon bekommen, sterben sie ab. Das im Labor gezüchtete Gewebe würde im Körper des Patienten verfaulen.
    Als der junge Walles im Jahr 2000 vor Heike Mertsching stand, brauchte sie gerade dringend einen Jungarzt, der sich nicht ganz dumm mit dem Skalpell anstellte und ihr die Operationen an Ratten abnehmen würde, die sie als Biologin nicht selbst durchführen konnte. Seine Aufgabe würde es sein, den Ratten unterschiedlich dicke Gewebestücke einzupflanzen. Ab welcher Größe würde das Stück verfaulen, das war die Frage.
    Nicht ein paar OPs standen ihm bevor, sondern 800 an der Zahl. Der Doktorand würde Biss und einen langen Atem haben müssen. Walles, den sie bald Thorsten nannte, hatte beides, stellte sie zu ihrer eigenen Verwunderung fest. Bald trafen sie sich jeden Morgen um sechs und operierten eine Ratte, dann entschwand er auf die Station oder in den OP-Saal, brachte einen schweren Arbeitstag hinter sich und kam abends wieder ins Labor. Ihre Tage hatten keinen Feierabend, oft arbeiteten sie bis Mitternacht. Manchmal schlief er ein, während sie ihm ihre Auswertungen ins Protokoll diktierte. Er hörte auf zu boxen, traf sich nur noch selten mit Freunden oder Kollegen, hielt eisern durch.
    Zwei Jahre später die Belohnung. Eine Veröffentlichung in einer hochrangigen Fachzeitschrift. Ergebnis: In der Haut einer

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