Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Freundeskreis – der Geschichte eines Notarztes, der einen Erfrorenen wiederbeleben soll, dessen Körperkerntemperatur nur noch 17 Grad betrug. War dieser Mensch schon tot oder noch am Leben? Die Handbücher der Notfallmedizin gaben keine Auskunft, die schwerste Form der Unterkühlung beginnt bei 28 Grad. Würde der Notarzt also einen »Zombie« zum Leben erwecken, wenn er die Reanimation fortsetzte?
Ein anderer Fall geht zurück auf ein Erlebnis, das ich selbst als Arzt in der Neurologie hatte: Der Patient litt unter einer rätselhaften Gehirnerkrankung, sein Geist versandete vor unseren Augen innerhalb weniger Wochen. Wir unternahmen viele Untersuchungen, verschickten Proben in Speziallabors, es wurde nichts gefunden. Ich war mir sicher, dass er an einer körperlichen Erkrankung litt, für die wir keinen Namen hatten. Der Fall ließ mich nie los. Vergangenes Jahr sprach ich mit vielen Neurologen, bis ich auf jenen jungen Facharzt an der Charité in Berlin stieß, der eine erst kürzlich entdeckte Gehirnerkrankung erforschte. Sie war heilbar, wenn der Patient die richtigen Medikamente bekam. Mit ihm diskutierte ich auch meinen damaligen Fall – und fand eine späte Antwort: Ja, auch mein Patient hatte vermutlich an dieser Gehirnerkrankung gelitten. Doch ich konnte ihn nicht mehr ausfindig machen.
Durch meine Interviews wollte ich herausfinden, wann und warum Ärzte über sich selbst hinauswachsen und welchen Anteil die Patienten an der Entscheidung ihrer Ärzte haben. Manchmal spielen sie eine Schlüsselrolle, so wie jene Frau, die im Endstadium einer Krebserkrankung zu ihrem Chirurgen sagt: »Ich bin bereit, alles zu ertragen, damit meine Kinder so lange wie möglich eine Mutter haben.« Der Arzt fühlte sich an ihren Auftrag gebunden und mutete ihr zu, was er sonst nur sich selbst zumuten würde. Maximaltherapie, volles Risiko. Was ist das für eine Frau, die ihren Arzt so weit gebracht hat?
Um all diese Fragen zu beantworten, habe ich die Geschichten genau rekonstruiert, Krankenakten und Pflegekurven studiert, mit Nahestehenden gesprochen, mit Krankenkassen telefoniert, die Behandlungskonzepte anzweifelten und von Ärzten Regress forderten.
Ich habe Ärzte kennengelernt, die anders sind als viele Vertreter unserer Zunft: Sie leiden unter dem, was die Medizin immer noch nicht vermag. Sie erkennen, dass unsere Konzepte von Krankheit, Diagnose und Therapie noch längst nicht hinreichen, sich weiterentwickeln müssen – so wie es zu allen Zeiten war. Sie zucken nicht mit den Schultern und sagen: »Mehr können wir nicht tun.« Sie beginnen zu suchen, Ordner mit Fachliteratur anzuhäufen, getrieben von der Frage, wo die rettende Lösung verborgen sein könnte. Sie alle eint die Bereitschaft, unkonventionelle Wege zu gehen, oft gepaart mit einer gewissen Unbeugsamkeit und der Bereitschaft, Kritik und Häme einzustecken, wenn sie scheitern. Und: Sie haben nie aufgegeben. Sie haben alles für ihre Patienten gegeben. Vielleicht manche von ihnen nur dieses eine Mal, als die Situation und der Mensch vor ihnen es einforderten.
Ich habe Patienten kennengelernt, für die ihre einzigartige Krankheit ihr Schicksal wurde, habe erfahren, wie sich ihr Leben, ihr Beruf, ihre Beziehung zu Partnern und Kindern im Laufe der Jahre verändert hat. Ich habe sehr genau nachgefragt, und so war es kaum vermeidbar, dass ich mitunter in Situationen stolperte, denen ich nicht sofort gewachsen war, in denen ich mich eher als Therapeut denn als Journalist fühlte. Doch am Ende waren die Menschen froh, einmal – manchmal das erste Mal – über alles gesprochen zu haben. Ich habe von ihnen gelernt, welche Eigenschaften ein Patient mitbringen muss, damit der Arzt über sich hinauswachsen kann: unerschütterliche Entschlossenheit, die Bereitschaft zum höchsten Risiko und die Fähigkeit zu einer Art Urvertrauen. Alle Patienten in diesem Buch waren bereit, ihr Schicksal ganz in die Hände ihres Arztes zu legen.
So konnten diese Menschen an der Seite ihrer Ärzte in das geheimnisvolle Reich noch nicht erforschter Therapien und noch nicht gesicherter Erkenntnisse reisen. Am Ende dieser Reise stehen Meilensteine der Medizin – solche, die schon jetzt in die neuere Medizingeschichte eingegangen sind, aber auch solche, von denen bisher nur ein kleiner Kreis von Menschen erfahren hat. Die Fälle, von denen ich erzähle, wirken einzigartig und spektakulär. Aber jedes Jahr tragen sich in der Welt viele tausend solcher nie erzählter
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