Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
wenig von ihm, das merkte sie jetzt, als die Ärzte und Pfleger ihr so viele Fragen stellten.
Pavninder stammte aus einer Provinzhauptstadt in Nordindien, die sie nur einmal gesehen hatte, auf ihrer nachgeholten Hochzeitsreise vor wenigen Monaten. Ein wunderschöner Maharadscha-Palast, zu dem die Leute aus dem ganzen Land strömten. Viel zu enge Straßen, der ohrenbetäubende Lärm der vielen Menschen und Motoren, die Rikschas, die ständig hupten, der Benzingestank. Auf der Straße stürmten Kinder und Frauen auf sie zu, fragten, ob sie ihre blonden Haare berühren dürften. Sie hatte seine Mutter kennengelernt, eine liebe Frau, wenige Jahre älter als sie, die immerzu lachte. Die Mutter hatte Pavninders jüngeren Bruder und die zwei Schwestern allein durchbringen müssen, denn der Vater, ein gewalttätiger Alkoholiker, war eines Tages nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Jemand hatte ihn erstochen.
Wie eine Prinzessin hatten sie sie dort behandelt, ein Ehebett im schönsten Zimmer des Hauses gerichtet. Der Bruder hatte ihr immer die Tür aufgehalten, die Schwestern hatten sie geschminkt und eingekleidet, damit sie schön aussah, wenn Verwandte oder Freunde zu Besuch kamen. Fotos von der Reise zeigen sie in einem roten Sari mit seiner Familie – auch eine schlankere deutsche Frau als sie würde grob aussehen unter diesen feingliedrigen Menschen mit den schönen Gesichtern.
2000 Euro von ihrem wenigen Ersparten hatte sie der Familie mitgebracht, Pavninder vermutlich viel mehr, er sprach nie darüber. Aber sie wusste, dass er schon immer jeden Euro nach Indien schickte, den er entbehren konnte. Von dem, was er im Monat verdiente, mal 1200 Euro, mal 1500, gab er ihr 500 für die Haushaltskasse, den Rest brachten sie alle drei Monate zu einer Bank am Stuttgarter Flughafen. Er war der Älteste, er hatte die Verantwortung. Und er hatte Schulden – den Menschenschleusern hatte er 20000 Euro bezahlt, sie wusste nicht, wem er die zurückzahlen musste.
Sein Leben: sechs Tage die Woche arbeiten, 12 bis 14 Stunden täglich. Morgens schlief er noch, wenn sie aus dem Haus musste. Wenn er nachts wiederkam, schlief sie. An seinem freien Tag schlief er so lange, dass sie kaum Zeit miteinander hatten. Nie verreisen, nie essen gehen, manchmal picknicken auf den Wiesen des Hügels, der in Fußnähe von der Wohnung lag. Er war ein ausgezeichneter Koch, sie aß gesund, seitdem sie ihn kannte. Nur Vegetarisches, wegen seines Glaubens.
Die drei Jahre, die er in Deutschland gelebt hatte, bevor sie ihn kennenlernte, waren seine härtesten gewesen. Eigentlich wollte er in die USA, aber seine Odyssee, über die er nie sprach, endete auf verschlungenen Wegen im Ruhrgebiet. Er fand Unterschlupf bei einem Inder, der ein Restaurant in Essen betrieb. Er arbeitete sieben Tage die Woche und zog sich abends zurück in ein fensterloses Zimmer im Keller. Er hörte Radio in einer Sprache, die er nicht verstand, las zerfledderte Zeitungen aus der fernen Heimat. Sein Gehalt, 700 Mark im Monat, sparte er für die Familie und seine Schulden, kaufte zwei Jahre keine neue Kleidung. Er fragte den Chef: »Bitte gib mir einen Tag frei.« Der sagte: »Du kannst für immer freihaben, wenn du willst.« Er bat ihn um mehr Geld, der Chef sagte: »Du kannst woanders hingehen, wenn sie dir dort mehr zahlen.«
Pavninder arbeitete in Frankfurt, in Paris und vielleicht noch woanders. Irgendwann beantragte er Asyl, weil Sikhs eine religiöse Minderheit in Indien sind.
Im Winter 2003 besuchte Inge mit ihrer Freundin eine Bar im Untergeschoss eines Einkaufszentrums. Dort sangen junge Talente einer Jury vor, die den »Megastar« der schwäbischen Kleinstadt suchte. Später wurde Musik der achtziger Jahre aufgelegt, da stand Pavninder plötzlich vor ihr, wollte mit ihr tanzen. Er sprach nur mit ihr, ihre Freundin beachtete er nicht.
Einige Tage später ging sie mit einer anderen Freundin in jenem Restaurant essen, wo er arbeitete. Sie trafen sich einige Male zum Spazierengehen. Sie erzählte ihm, dass sie einen Sohn in seinem Alter habe. Das störe ihn nicht, beteuerte er. In einer Winternacht küsste er sie zum ersten Mal in ihrem Auto. »Er war wie ausgehungert, ist richtig rangegangen«, erinnert sie sich und muss heute noch kichern.
Als sie ihn zwei Jahre später heiraten wollte, sagten ihre Mutter und ihre Freundinnen: »Du spinnst.« Es werde hart für sie beide wegen des Altersunterschieds, sagte sie zu Pavninder. »Aber wenn unsere Liebe stark genug
Weitere Kostenlose Bücher