Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Ratte darf der Abstand einer gezüchteten Zelle zum nächsten Blutgefäß maximal 0,8 Millimeter betragen, sonst stirbt sie ab. Auf einem Kongress in Tampa, Florida, präsentierten sie ihre Ergebnisse vor den US-Kollegen, die bis dahin immer auf die Bemühungen der Deutschen herabgeschaut hatten. Sie ernteten viel Beifall.
Am Wochenende darauf wanderten sie durch Floridas Sumpfgebiet, die Everglades. Mücken piesackten sie. Als er ihr ein Insekt von der Wange verscheuchen wollte, blieb seine Hand dort. Sie standen nahe beieinander. Der erste Kuss fühlte sich selbstverständlich an. Sie waren schon lange ein Paar, bemerkten sie in jenem Moment, nur hatten sie nie die Zeit gehabt, das Beisammensein im Privaten auszuleben. Nie, auch später nicht, stellten sie sich die Frage, ob es gut sei, Berufliches und Persönliches so eng zu verweben. Der Statusunterschied – junger Assistenzarzt und renommierte Wissenschaftlerin –, sie spürten ihn nicht mehr. Thorsten war gewachsen in jener Zeit, er stand seinen Mann im Operationssaal und auf den Krankenhausstationen, in einer Welt, die ihr verschlossen war, auch wenn ihr Labor nebenan lag.
Er hatte umgeschwenkt von der Herz- auf die Thoraxchirurgie und würde bald seine Facharztprüfung machen. Er wollte sich einem Organ widmen, das als einziges neben dem Darm damals hartnäckig allen Versuchen widerstand, transplantiert zu werden: der Luftröhre. Deshalb starben den Ärzten häufig Kinder unter der Hand weg, nachdem sie Backofenreiniger oder andere ätzende Flüssigkeiten getrunken hatten.
Als Heike zwei Jahre nach dem ersten Kuss die Stelle am Fraunhofer-Institut für Grenzflächen- und Bioverfahrenstechnik in Stuttgart angeboten bekam, standen für beide zwei Dinge außer Frage. Sie müsste diese Chance wahrnehmen. Und: Er würde so bald wie möglich nachkommen. Heike rechnete ihm diese Bereitschaft hoch an, war es doch im Allgemeinen andersherum, Frauen folgten den Männern.
Sie hatten Glück. Der Chef der Lungenfachklinik Schillerhöhe war begeistert gewesen, als er von Thorstens Interesse an der Luftröhre und Heikes Forschungen hörte, und hatte ihm sofort eine Stelle angeboten.
Inge Bäuerle war eine treue Ehefrau. Jeden Tag um die Mittagszeit, wenn sie aus dem Büro der Abfallentsorgungsfirma kam, wo sie als Putzfrau arbeitete, besuchte sie Pavninder im Klinikum der Kleinstadt. Nachmittags ging sie wieder putzen, abends dann wieder auf die Intensivstation, tagaus, tagein. Auch im Koma sollte er spüren, dass jemand da war, seine Hand hielt. Er war an so viele Kabel angeschlossen, dass sie sich kaum traute, ihn woanders zu berühren. Unter seinem Kehlkopf führte ein Beatmungsschlauch durch ein künstliches Hautloch – Tracheostoma – in die Lunge. Das träge rhythmische Geräusch der Maschine beruhigte sie, dabei gab es nichts, worüber man beruhigt sein konnte.
Er habe eine überraschend gute Konstitution, sagten ihr die Ärzte, aber es bestehe kaum Hoffnung, dass er es schaffe. Der Backofenreiniger hatte seine Speiseröhre aufgelöst, dann hatte die ätzende Lauge auf das umgebende Gewebe übergegriffen, ein Loch in die Luftröhre geschmolzen. Möglicherweise sei es so groß, dass man es nicht flicken könne, erklärte ihr einer der vielen namenlosen Männer in weißen Kitteln am Krankenbett. Man müsse die Luftröhre quer durchschneiden, das entzündete Gewebe entfernen und dann die beiden freien Enden der Luftröhre zusammenziehen und vernähen. Ein Glücksspiel. Denn diese Naht würde unter enormen Zugkräften stehen. Wenn sie reiße …, und der Mann machte eine Handbewegung quer über seine Kehle.
Vielleicht würde er nicht mal bis zur Operation durchhalten, sondern sich vorher eine Lungenentzündung einfangen, die die Ärzte nicht mehr unter Kontrolle brächten. So sterben Menschen mit großen Luftröhrendefekten oft, sie ersticken nach Monaten der Maximaltherapie. Doch Inge erfuhr auch, dass sich Spezialisten an einer Lungenfachklinik gerade überlegten, ob sie an ihm eine experimentelle Operation wagen sollten. Wenn er denn leben und das auf sich nehmen wollte – das wusste derzeit niemand.
Warum nur hatte sie seine Verzweiflung nicht gesehen? Was hätte sie tun können, um ihm zu helfen? Sicher, manches Mal hatte Pavninder zu ihr gesagt: »Alles wäre leichter, wenn ich nicht mehr am Leben wäre.« Aber so was sagt man doch manchmal einfach dahin, sie hatte es nicht ernst genommen. Sie liebte ihn, auf ihre Weise, aber sie wusste nur
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