Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
ist, schaffen wir alles!« Sie war damals 50 Jahre alt, er 21.
Der Standesbeamte glaubte ihnen nicht. In getrennten Zimmern wurden ihnen Fragen zur Familie des anderen gestellt. Eines Morgens klingelte ihr Handy, die Sozialarbeiterin des Asylantenheims, in dem er wohnte, meldete sich mit aufgeregter Stimme. »Sie müssen sofort kommen, Ihr Verlobter sitzt in Abschiebehaft.« Ein Kölner Anwalt, spezialisiert auf Immigranten aus Indien, boxte ihn raus. Nach der Trauung feierten sie in der Bar im Untergeschoss der Einkaufspassage, wo sie sich kennengelernt hatten. Die Mutter und ein paar Freundinnen waren gekommen, Inges Brüder nicht.
Die Monate danach zählten zu den schönsten ihres Lebens, aber irgendwann fraß die viele Arbeit das Glück auf. Immer wieder beteuerte er ihr, sie sei die erste große Liebe seines Lebens, aber sie konnten ihre Liebe nicht mehr leben. Es war nicht nur die Geschichte mit diesem Mädchen und ihrem Onkel, glaubte sie. Er hatte sicher auch ein Burn-out, keiner konnte dauerhaft so viel arbeiten.
Jetzt lag er hier, und sie wusste weder, ob er überleben würde, noch, ob er es wollte. Schon mehrfach hatten die Ärzte versucht, ihn aus dem Koma zu holen, jedes Mal begann er, sich Kabel und Schläuche vom Körper zu reißen. Ein Pfleger meinte, er mache das absichtlich, sie glaubte ihm nicht.
Die Luftröhre wirkt so schlicht auf den ersten Blick. Ein Rohr, etwa zwölf Zentimeter lang, stabilisiert durch ringförmige Knorpel. Die Ersatzteilmedizin hat Kunstherzen, Kniegelenke und ferngesteuerte Armprothesen hervorgebracht. Künstliche Luftröhren gab es nicht, und auch keine Spenderorgane.
Der Grund: Luftröhren sind von Mensch zu Mensch so verschieden wie Fingerabdrücke. Sie sind das bedeutendste Eingangsportal für Krankheitskeime, die Schnittstelle zwischen Körperinnerem und Umwelt. In ihrer Schleimhaut lauern Wächterzellen auf Angreifer – Zellen des körpereigenen Immunsystems, die alles bekämpfen, was fremd ist, auch ihren neuen Wirt, wenn sie aus einem Leichnam in einen fremden Körper verpflanzt werden. Außerdem leben in Luftröhren viele Milliarden Bakterien und Pilze in einem sensiblen ökologischen Gleichgewicht, von dem die Medizin noch nicht viel versteht und das von Mensch zu Mensch verschieden ist. Mit ihrem Wirt haben sie sich gut arrangiert. Aber wenn man diese Luftröhre samt Keimen und Wächterzellen in einen anderen Körper verpflanzt, würde dessen Immunsystem alles als feindlich betrachten – der Organempfänger müsste ein Leben lang hochdosierte Immunsuppressiva nehmen.
Das zweite Problem ist die Blutversorgung. An vielen anderen Organen hat der Mensch eine große Schlagader und eine Vene, an die man das Transplantat andocken kann. Anders die Luftröhre, sie wird nur über Mikrogefäße aus Nachbarorganen versorgt.
Das sind die Gründe, weswegen Heike Mertsching und Torsten Walles all ihre Bemühungen in den vergangenen Jahren ganz auf die Luftröhre konzentrierten. Für die Patienten, die einen Organersatz brauchten, gab es keine Alternative. Ein Heilversuch würde ethisch gut zu vertreten sein.
In Tierversuchen hatten sie schon erfolgreich Implantate eingesetzt, aber ob ihre Methode beim Menschen funktionieren würde, war fraglich. Zweimal hatten sie Patienten operiert, deren Luftröhren von Krebsgeschwüren zerfressen worden waren. Beide lebten nicht mehr lange nach der Operation. Der erste Patient starb an seinem Grundleiden, der zweite Patient aber stellte all ihre Bemühungen in Frage. Denn die künstliche Luftröhre war in seinem Körper verfault. Schuld war die fehlende eigene Blutversorgung im künstlichen Gewebe. Ihre jahrelange Forschung stand auf dem Prüfstand. Sie mussten einen neuen Weg finden.
An einem Tag im Januar 2008 war es plötzlich so weit. Nach der Morgenvisite rief der Chefarzt der Klinik Schillerhöhe seinen Assistenten Walles zu sich, erzählte ihm von Pavninder Singh, der nur 40 Kilometer entfernt in einer Klinik lag. Als Thorsten Walles von Singh hörte, wusste er, dass Heike und ihm jetzt die größte Bewährungsprobe bevorstand. Singh war jung. Er litt nicht wie seine beiden Vorgänger an einer fortgeschrittenen Krebserkrankung, und sein Körper war laut seinen behandelnden Ärzten erstaunlich fit angesichts des langen Aufenthalts auf der Intensivstation. Wenn einer es schaffte, dann Singh. Wenn ihre Forschung für die Praxis taugte, dann würde Singh mit Hilfe ihres Implantats bald wieder ein normales Leben führen –
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