Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
kleinen Jungen, die seinem Vater ein Töchterchen gebar, das sie viel lieber hatte als den Jungen, den sie schließlich mit dem schweren Deckel einer Apfelkiste erschlug.
»Die Geschichte ist schrecklich«, sagte Anne. »Die Stiefmutter kocht das Kind.«
»… und serviert es dem Vater, genau, der alles mit großem Appetit aufißt und die Knochen unter den Tisch wirft. Aber das kleine Mädchen, die Schwester des Jungen …«
»Das Marlenichen.«
»Sie sammelt die Knochen des Jungen auf, hüllt sie in ihr bestes seidenes Tuch und legt sie unter den Machandelbaum, unter dem auch die Mutter des Knaben begraben liegt. Und was geschieht?«
»Da war etwas mit einem Vogel«, sagte Anne, lehnte sich an ihn und kraulte Nemax, der ihr auf den Schoß gesprungen war.
»Genau. Der Machandelbaum verwandelt die Knochen des Knaben in einen wunderschönen Vogel, der hatte rote und grüne Federn, und um den Hals war er wie lauter Gold, und die Augen blinkten ihm wie Sterne im Kopf.«
»Und er konnte herrlich singen.«
»Der Vogel verbreitete die Geschichte überall, beim Goldschmied, beim Schuster, beim Müller:
›Mein Mutter der mich schlacht,
mein Vater der mich aß,
mein Schwester der Marlenichen
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legt’s unter den Machandelbaum.
Kiwitt, kiwitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!‹«
Anne sagte nichts. Und Bremer war glücklich, sie endlich wieder im Arm zu halten. Aber es gab noch etwas zu erledigen.
»Die meisten Menschen glauben, der Machandelboom sei ein Mandelbaum.«
»Ist er das nicht?« Anne, schläfrig.
»Nein. Es ist ein Wacholderbaum.«
Ein großer grauer Kerl mit dunklen Beeren. Das Exemplar, das er meinte, war mindestens vierzig Jahre alt.
»In Sophie Winters Garten steht einer. Am Morgen nach dem Brand hat die Polizei Knochen unter dem Wacholder gefunden. Katzenknochen.«
»Und die haben sich in einen Vogel verwandelt?« Anne, immer noch schläfrig.
Nein. Aber …
»Kommst du mit?« flüsterte er ihr ins Ohr. »Wir müssen zum nächsten Grab.«
Sie nahmen die Räder. Das Gartentor vor Sophie Winters Haus stand sperrangelweit offen. Bremer faßte Annes Hand, als sie hineingingen. »Er steht im hinteren Garten.« Warum flüsterte er? Und warum versuchte auch Anne, besonders vorsichtig aufzutreten?
Als sie um die Hausecke bogen, blieben sie beide gleichzeitig stehen. Da war der Wacholderbaum, unverkennbar. Ein stolzer, stattlicher grauer Busch. Und unter ihm … Unter ihm lag etwas Weißes und etwas Rotes. Weiß wie Schnee und rot wie Blut. Ein weißes Fellknäuel, das jetzt den Kopf hob und sie angähnte. Eine weiße Katze. Sie hatte die Pfote so, als ob er ihr gehörte, auf einen Strauß roter Rosen gelegt.
»Sie rührt sich nicht von der Stelle. Sie geht auch nicht mehr ins Haus. Wenn ich sie füttern will, muß ich es der Madame schon hier servieren«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Bremer drehte sich um. Peter Abel, verlegen, mit einem Schüsselchen Katzenfutter in der Hand. »Sie heißt Alisha. Und weiß der Teufel, wo sie die Blumen herhat.«
»Ein letzter Gruß von Charles an Sascha?« fragte Anne, der Bremer an einem langen Abend nach ihrer Rückkehr die ganze Geschichte erzählt hatte.
»Wer weiß«, murmelte er.
Aber die Katze hat alles gesehen.
Dank
Dieser Roman ist ein Werk der Phantasie. Doch die Fiktion kommt selten ohne ein paar sachdienliche Hinweise aus der Wirklichkeit aus.
Insbesondere Robert Schmitt vom Frankfurter Polizeipräsidium verdanken dieses Buch und Giorgio DeLange viel.
Von Anfang bis Ende begleiteten mich mit Rat und Tat Ellen Eggers, Angelika Röthgen, Rudolf Westenberger; für einige Episoden habe ich Inge Fleckenstein und Martin Enlen zu danken – und jenen Syndikats-Mitgliedern, die sich auch auf die kleinen Details des Lebens einlassen mögen.
Kieser Training war unschätzbar in der Praxis – und in der Theorie half Volker Pommerening aus, Quality Manager von Kieser Training in Köln.
Viel verdanke ich der intensiven und inspirierten Zusammenarbeit mit Katrin Fieber und der motivierenden Energie von Siv Bublitz und dem List Verlag.
Und wie immer geht mein Dank an Reinhard Jahn – nie um eine rettende Idee verlegen …
Last but not least: Mein oberhessisches Lieblingsdorf und die Waldschenke in Freienseen waren Vorbild in allen wahren, guten und schönen Dingen. Alles Böse aber ist auf meinem Mist gewachsen.
Und noch eine Flaschenpost aus der Realität: Giorgio DeLanges
Weitere Kostenlose Bücher