Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
hat mich weggedrückt«, sagte Paul. »Er hat mich einfach weggedrückt …«
6
Es war eine etwas eigentümliche, aber längst liebgewonnene Angewohnheit von Paul, jeweils zwei Bücher gleichzeitig zu lesen. Das hieß im Wechsel mal vier oder fünf Kapitel von dem einem, dann wiederum drei oder vier Kapitel von dem anderen Buch. Während er nach seiner Rückkehr ausgestreckt auf seinem Sofa in seiner geräumigen Atelierwohnung lag und sich durch das große, ovale Oberlicht die Sonne ins Gesicht scheinen ließ, näherte er sich gerade der Seite 300 von Philippe Djians etwas sperrig geratenem Roman Sirenen, den er abwechselnd mit der erotischen Anthologie Haut und Haar von Linda Jaivin las, als wiederholtes Hupen an sein Ohr drang.
Paul sah zunächst nicht ein, warum er sich wegen eines hupenden Autos unten am Weinmarkt aus Djians skurriler Story um den Polizisten Nathan, der als erfolgloser Polizist und unglücklicher Liebhaber ständig zwischen die Fronten gerät, reißen lassen sollte. Doch als das Hupen nicht aufhören wollte, stand er auf und ging zum Fenster. Er beugte sich so weit vor, bis er zur Straße hinunterblicken konnte.
Er erkannte Katinka sofort. Ihr langes blondes Haar bildete einen starken Kontrast zur dunkelroten Ledergarnitur ihres schwarzen Mini-Cabriolets.
»Hast du Zeit?«, rief sie zu ihm herauf.
Paul freute sich, die Staatsanwältin zu sehen, und noch viel mehr freute er sich darüber, dass sie offenbar in privater Mission unterwegs war. »Klar doch!«, rief er laut zurück.
Fein, dachte er guter Dinge und rieb sich die Hände. Er ging zu seiner Küchenzeile, um seine Espressomaschine einzuschalten; gleichzeitig hielt er Ausschau nach zwei unbenutzten Tassen.
Ja, sagte er sich, zurzeit lief es recht gut für ihn. Erst der Auftrag über die Dokumentation der Felsengänge für die Ausstellung 200 Jahre Franken in Bayern, dann die stetigen Aufträge für Blohfelds Zeitung und schließlich die Aussicht auf eine neue Imagebroschüre für die Wiesingers – was konnte sich ein freier Fotograf Besseres wünschen? Wenn es auch noch im Privatleben bergauf zu gehen schien, dann, ja dann …
Paul stutzte. Eigentlich hätte Katinka längst vor der Tür stehen müssen. Aber das Klingeln blieb aus. Paul ging zurück zum Fenster und blickte hinab. Ein schadenfrohes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Ausgerechnet Katinka, das Musterbeispiel einer emanzipierten Frau, versagte beim Einparken in eine Lücke, in die ihr Mini leicht zwei Mal gepasst hätte.
Typisch Kati, dachte Paul, in manchen Dingen war sie einfach viel zu ungeduldig. Belustigt beobachtete Paul das Treiben fünfzehn Meter unter ihm, und ihm war sehr wohl bewusst, dass gerade das sie noch nervöser und hektischer agieren ließ. Mit jedem Vor- und Zurücksetzen brachte sie ihren kleinen Wagen in eine ungünstigere Position. Paul hörte sie bis zu sich hinauf fluchen und fragte sich, wann sie aufgeben und sich lieber einen Platz im Parkhaus am nahe gelegenen Spielzeugmuseum suchen würde.
Dagegen stellte sich der Fahrer eines blauen Lkw wesentlich geschickter an, der gegenüber auf der anderen Seite des Weinmarkts seinen Dreiachser langsam, aber sicher aus einer engen Toreinfahrt bugsierte. Paul verglich die Fahrmanöver der beiden und fühlte sich königlich wohl in seiner erhabenen Position hoch oben über dem Geschehen.
Glucksend vor Freude holte er sich seine Kamera und richtete sie auf Katinkas Mini. Er würde ihr das Foto bei Gelegenheit in ihr Büro mailen, wenn sie ihn – wie es leider oft ihre Art war – bei einer Erkundigung im Auftrag Victor Blohfelds kühl abblitzen lassen wollte.
Inzwischen hatte der Lkw die Einfahrt verlassen, rollte aber rückwärts weiter. Paul fragte sich, warum der Fahrer den Gang nicht herausnahm und wendete. Ausreichend Platz nach vorn hatte er mittlerweile dafür.
Katinka schien endgültig aufzugeben. Sie kurbelte das Lenkrad bis zum Anschlag herum, was Paul fleißig mit Bildern dokumentierte. Sie setzte ein Stück zurück und wollte dann vorstoßen. Doch der Lkw war inzwischen so nahe gekommen, dass sie warten musste.
Paul legte die Kamera beiseite, lehnte sich auf die Fensterbank und stützte sein Kinn abwartend auf seinen Handrücken. Zentimeter um Zentimeter fuhr der blaue Lastwagen weiter rückwärts. Paul sah, wie Katinka ungeduldig mit ihren Fingern aufs Lenkrad trommelte. Zwischen den beiden Fahrzeugen waren jetzt nur noch wenige Meter Abstand. Paul richtete sich auf. Noch
Weitere Kostenlose Bücher