Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
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Es war der bisher heißeste Tag in diesem Sommer, doch Paul Flemming fror so sehr, dass er den obersten Knopf seines leichten Hemdes schloss, was allerdings überhaupt keine Wirkung zeigte.
Er befand sich in einer Situation, von der er selbst nicht wusste, wie er sie einordnen sollte: beängstigend oder aber einfach nur absolut lächerlich. Um seiner eigenen Motivation willen entschied er sich für Letzteres und nahm sich vor, erstens ganz ruhig zu bleiben und zweitens eine nüchterne Bilanz seiner Lage zu ziehen: Paul Flemming befand sich mitsamt seiner schweren Kameraausrüstung, einer mittelstarken Taschenlampe und sommerlich leichtem Outfit grob geschätzte sieben oder acht Meter tief im Nürnberger Untergrund. Vor ihm ein Labyrinth aus dunklen, feuchten Gängen und hinter ihm ein Labyrinth aus dunklen, feuchten Gängen. Er stand in gebückter Haltung, und von der niedrigen, aschgrauen Decke tropfte unentwegt Kondenswasser in seinen Kragen.
Der alte Mann, der ihm den Schlüssel für den Eingang der Nürnberger Felsengänge gegeben hatte und sich freimütig anbot, Paul auf seinem Weg in die Tiefe zu begleiten, hatte ihn ermahnt, auf keinen Fall die markierten Pfade zu verlassen. Doch Paul hatte nicht nur eine Begleitung durch den Fremdenführer abgelehnt, sondern sich auch über dessen Warnung hinweggesetzt. Denn für seinen neuen Auftrag, eine aktuelle Bilddokumentation vom unterirdischen Nürnberg für die Landesausstellung 200 Jahre Franken in Bayern, wollte er die jahrhundertealten Felsengänge zunächst ganz allein und ohne jede Störung auf sich wirken lassen. Schließlich besaß er ja einen Lageplan, und der kleine Abstecher in einen unausgeschilderten Seitenarm war ihm als vertretbares Risiko erschienen.
Inzwischen war gut eine Stunde vergangen, und Paul hatte sich – da bestand kein Zweifel mehr – hoffnungslos verlaufen. Wieder fand ein eiskalter Wassertropfen den Weg in seinen Kragen, und das Licht seiner Taschenlampe wurde allmählich flauer. Paul musste niesen.
Den Auftrag für die Dokumentation von Nürnbergs in vielen Teilen unerforschten Gängen, Fluchten und Felsengewölben im Untergrund der Stadt hatte er direkt aus dem Rathaus erhalten; dazu einen Stoß Aktenordner mit Katastern, Karten und früheren unvollständigen Bestandsaufnahmen. Die Akten lagen ungelesen in seinem Loft am Weinmarkt, und dort hatte er wohl auch seine Vernunft zurückgelassen, ärgerte sich Paul im Nachhinein über seine übereilte und schlecht vorbereitete Exkursion.
Paul zog abermals den Lageplan aus seiner Hosentasche, entfaltete ihn und richtete umständlich das matte Taschenlampenlicht darauf. Er studierte die verwirrend verlaufenden Gänge, erkannte Chaos statt System und fühlte sich nun vollends in einen Irrgarten versetzt. Er streckte seine Hand aus und fuhr zweifelnd an der klammen, bröckelnden Wand entlang.
Angesichts der Kälte, die ihm unter Hemd und Hose kroch, musste er sich eingestehen, dass er für diesen Job völlig falsch ausgerüstet war. Vor allem an wärmere Kleidung hätte er denken müssen, schimpfte er still vor sich hin, als er seinen Weg durch die dunklen kalten Stollen fortsetzte.
Nahezu die komplette Nürnberger Altstadt war unterkellert. Der felsige Untergrund war durchbohrt von unzähligen Stollen, deren Ausläufer angeblich bis hinaus über die Stadtgrenzen reichten. Das wusste Paul, und gerade das Erkunden dieses geheimnisumwitterten unterirdischen Systems hatte ihn an seinem neuen Auftrag ja so gereizt. Aber ohne Ortskenntnisse und bessere Vorbereitung würde er nicht weit kommen. Der Gang, in dem er jetzt stand, war höchstens sechzig Zentimeter breit. Wieder musste er seinen Kopf einziehen; die Erbauer dieses Tunnels hatten seine einsfünfundachtzig nicht vorhersehen können. Paul entschied sich umzukehren, als der Weg in einen Kriechgang überging.
Er machte also kehrt, ohne jede Ahnung, in welcher Himmelsrichtung er unterwegs war. Seine Schritte hallten in den kahlen Stollen wider. Das Knirschen zertretener Steinchen drang laut an sein Ohr. Sobald er aber stehen blieb, herrschte absolute Stille. Er war vollkommen abgeschirmt von der Außenwelt. Das war einerseits beruhigend, andererseits gespenstisch. Ihm schauderte, als er an die vielen gruseligen Geschichten über Nürnbergs geheime Gänge dachte, die ihn schon in seiner Kindheit gefesselt hatten. Etwa das uralte Gerücht vom Schatz, der im fünfzehnten Jahrhundert in einem der Tunnel eingemauert worden war und auf
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