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Paul, mein grosser Bruder

Paul, mein grosser Bruder

Titel: Paul, mein grosser Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hakan Lindquist
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erinnerte ich ihn an den Kompass. Für den Fall, dass er sich im Wald verirrte. Der Wald auf der anderen Seite des Weges ist nämlich sehr groß, verstehst du .«
    »Was ist dann passiert ?«
    »Dann ... dann hat Paul etwas sehr Gefährliches getan. Etwas, das du niemals tun darfst. Denk immer daran! Er ging nämlich hoch auf den Bahndamm. Und als der Zug kam, muss er in Gedanken versunken gewesen sein, vielleicht hat er einem Tier nachgejagt oder irgendetwas. Jedenfalls hat er den Zug nicht gehört und wurde überfahren. Und ist gestorben .«
    »Hat es wehgetan ?« , fragte ich.
    Mama schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Es ging so schnell. Da spürt man nicht mehr, ob es wehtut oder nicht .«
    Nach einer Weile erzählte sie weiter, aber ihre Stimme klang anders. »Es war der 21. Juli des Jahres, bevor du geboren wurdest«, sagte sie. Es klang, als würde sie es sich selbst erzählen. »Es war übrigens derselbe Tag, an dem sie zum ersten Mal den Mond betraten. Ich erinnere mich, dass ich am Vormittag etwas unruhig war. Irgendwie besorgt. Stefan stand in der Küche und machte den Abwasch. Er hörte Radio. Er sang ein Lied mit, das sie in jenem Sommer ziemlich häufig spielten . It's the time of the season when your love runs high ... Und dann läutete es plötzlich an der Tür. Ich öffnete. Draußen standen zwei Polizisten. Sie baten darum, hereinkommen zu dürfen.
    Erst als wir alle vier in der Küche standen, begriff ich, warum sie gekommen waren. ‚Ist etwas mit Paul passiert ?‘ , fragte ich. Der eine Polizist schaute auf den Boden. Der andere nickte und sagte: ‚Ihr Sohn ist in einen sehr schweren Unfall verwickelt gewesen .‘ Ich habe nicht richtig begriffen, was er sagte. Das Radio spielte immer noch. Und während er fortfuhr und erzählte, dass Paul gestorben wäre, habe ich geschrien: ‚Kann denn niemand dieses verdammte Radio ausmachen !‘ Dann wurde es unheimlich still. Das Einzige, das man hörte, war Stefans Schluchzen .«
    Nachdem Mama ihre Erzählung beendet hatte, war die Wohnung nicht mehr wie vorher, sie wirkte anders. Fast unwirklich.
    Man stelle sich vor, ich hatte einen Bruder gehabt, der hier gelebt hatte, der in dieser Wohnung herumgelaufen war. Einen Bruder, der mit meiner Mama und meinem Papa gesprochen hatte, der gelacht und hier in unserer Wohnung gespielt hatte. Man stelle sich vor, ich hatte einen Bruder gehabt, der in dem Zimmer gelebt hatte, das jetzt mir gehört.
     
    Als ich noch klein war, habe ich das Foto von Paul immer vom Fernseher heruntergenommen. Ich studierte es genau; hielt es vor meine Augen und versuchte, etwas Neues zu entdecken, etwas, das ich vorher nicht gesehen hatte. Manchmal nahm ich das Foto mit in mein Zimmer, damit er es sehen konnte, damit er es wiedererkennen konnte. Ich hatte nämlich nicht nur Pauls Zimmer geerbt; ich hatte auch seine Möbel, Spielsachen und Bücher übernehmen müssen; selbst einen Teil seiner Kleidung musste ich auftragen.
    Als ich lesen und schreiben lernte, machte ich immer kleine Notizen über meinen Bruder. Hier und da kann ich noch immer kleine Anmerkungen in unbeholfenen Buchstaben und Zahlen finden.
    Paul bis Jonas 502 Tage.
    Oder: Es sind 12048 Stunden zwischen uns.
    An den Rand meines Englischbuches der siebten Klasse hatte ich geschrieben: You are seven-teen months away .
    Ich erinnere mich nicht an alles, was ich über Paul gedacht hatte, als ich klein war; ich erinnere mich nur daran, dass ich häufig an ihn dachte und dass es häufig so wirkte, als sei er anwesend. Manchmal verschmolzen wir zu einer Person. Es schien, als ob ich schon damals er gewesen sei, bereits während seines Lebens. Als sei ich es gewesen - in einem Traum oder einer verschwundenen Zeit -, der die jungen Füchse, die vor ihrem Bau spielten, an diesem frühen Morgen gesehen hatte; ich bin es gewesen, der viel zu beschäftigt damit war, den großen Waldjenseits des Weges zu beobachten, um den herannahenden Zug zu entdecken. Ich bin es gewesen, der starb. Ich bin es gewesen, der siebzehn Monate später wiedergeboren wurde - man könnte fast sagen - auferstanden ist. Und trotzdem ist es die ganze Zeit er gewesen, Paul.
    Manchmal wünsche ich, ich hätte Tagebuch geführt, als ich jung war. Die schriftlichen Beweise über die Nähe meines Bruders während meiner Kindheit beschränken sich auf die Zettel und Notizen, die von der Zeitspanne erzählen, die unser beider Leben trennt.
    Als ich geboren wurde, waren 722880 Minuten vergangen.
     
    Dann

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