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Paul ohne Jacob

Paul ohne Jacob

Titel: Paul ohne Jacob Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula Fox
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seinem Zimmer ein, um mit dem Aufsatz anzufangen. Nachdem er einige Minuten lang in der frühen Dunkelheit nachgedacht hatte, knipste er seine Schreibtischlampe an. Er schrieb: Wenn mein Vater samstags in der Tierklinik arbeitet, die ungefähr anderthalb Meilen von zu Hause entfernt ist, spiele ich dort gern im Wald. Mein Vater ist Tierarzt. Im Wald gibt es Bretter und eine alte Steinmauer und allerhand Zeug, das seit der Zeit dort herumliegt, als der Wald als Müllkippe benutzt wurde. Der Wald ist nicht sehr groß, aber es gibt genug Bäume, dass man sich abgeschieden fühlen kann. Letzten Samstag habe ich Bretter und heruntergefallene Äste aufgesammelt und eine Rolle Maschendraht gefunden, mit der sich vielleicht mal etwas anfangen lässt. Es wurde aber zu kalt, deshalb bin ich schon früh gegangen. Wenn es am nächsten Wochenende nicht schneit, bringe ich einen Hammer mit und eine Säge und ein paar Nägel für das Holz.
    Ich bin einen Meter vierundvierzig groß. Meine Haare sind braun und meine Augen auch. Ich habe eine Mutter und einen Vater und einen Großvater, der als Einziger von meinen Großeltern noch lebt. Meine Mutter gibt Klavierunterricht. Wenn ich nach der Schule nach Hause komme, ist es dort ziemlich laut. Deshalb bin ich darauf gekommen, mir im Wald ein eigenes Häuschen zu bauen.
    Es stimmte nicht, dass es zu Hause laut war.
    Mrs Coleman hatte sieben Schülerinnen und Schüler. Die hatte sie im Laufe der letzten sechs Monate bekommen, seit die Familie in Brasston wohnte. Sie benahmen sich alle gut, bis auf einen jungen Mann mit drei Goldringen im linken Ohr. Er hatte einen langen Pferdeschwanz, der schlaff herunterhing und von einem Gummiband gehalten wurde, und er gab mit seinen schnellen Läufen an, brachte aber kein einziges Musikstück zu Ende. Ihm ging es hauptsächlich darum, auf den Tasten wilde Akkorde zu hämmern. Eine andere Schülerin war Mrs Brandy, eine ältere Frau, die unbeirrt und ziemlich falsch ganze Sonaten spielte und dazu ein stolzes Gesicht machte.
    Die anderen fünf, die zum Unterricht kamen, waren Kinder verschiedenen Alters. Eins war sogar erst sechs.
    Am nächsten Tag wollte Mr Stang, dass Paul nach dem Unterricht noch ein paar Minuten blieb.
    »W as du bisher geschrieben hast, gefällt mir gut«, sagte er. »Es ist originell und lebendig. Aber der Aufsatz sollte mehr Einzelheiten über deine Familie enthalten. Was ist mit deinem kleinen Bruder? Ich würde gern ein paar Fotos sehen. Wo bist du zur Welt gekommen? Woher stammt deine Familie? Bei einer Autobiografie geht es schließlich um dein ganzes Leben.«
    Woher wusste Mr Stang, dass er einen Bruder hatte? Erst Robert Brown, dann die Schulschwester. Jetzt sprach ihn auch sein Englischlehrer auf Jacob an, wenn er ihn auch nicht mit Namen erwähnte. Die Nachricht von Jacob hatte die Runde gemacht.
    Paul bekam es mit der Angst zu tun. Was wäre, wenn Mr Stang Ungenügend quer über das Blatt schrieb, das er so lässig durch die Luft schwenkte?
    »W ir alle kommen von irgendwoher«, sagte Mr Stang tiefsinnig und sah dabei an Paul vorbei zum großen Fenster im Klassenraum. »W ir haben alle eine Geschichte.«
    Als Paul nach Hause kam, stellte er fest, dass Jacob sich offenbar eine Kicherinfektion zugezogen hatte, so wie andere Leute sich eine Erkältung zuziehen. Während des gesamten Abendessens und auch noch danach war das Haus von diesem Kichern erfüllt, ein Geräusch wie ein kleiner Bach, der über Kieselsteine fließt.
    Dr. Coleman hatte Jacob aus der Tierklinik ein verwaistes schwarzes Kätzchen mitgebracht.
    Jacob legte sich auf den Teppich im Wohnzimmer. Das Kätzchen sprang ihm auf den Rücken und langte mit den Pfoten in seine Lumpenpuppenhaare. Jacob lachte so, dass er den Kopf nicht mehr hochhalten konnte. Dr. Coleman und Mrs Coleman lächelten ihm zu. Als Jacob dem Kätzchen sein Gesicht zuwandte und es zu küssen versuchte, fielen sie sich plötzlich in die Arme, als hätten sie gerade entdeckt, wie sehr sie einander liebten.
    Paul hatte den Tisch abgeräumt. Jetzt blieb er an der Esszimmertür stehen und beobachtete seine Familie. Er kam sich hilflos vor. Konnte nicht sprechen. War nicht in der Lage, den anderen seine Anwesenheit anzuzeigen. Er war unsichtbar geworden.
    Seit Jacobs Geburt hatte es noch mehr Augenblicke dieser Art gegeben. Augenblicke, in denen Paul sich ausgelöscht fühlte, weggewischt wie ein Kreidejunge von der Tafel.
    Jacob war einfach so, wie er war. Bei ihm gab es keinen Unterschied

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