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Kobra

Kobra

Titel: Kobra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina Czarnowske
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1. Kapitel
     
     
    Ich habe etwas übersehen. Etwas, das ich sofort hätte bemerken müssen. Nachher ist es zu spät. Dann ist es weg, geht unter.
    Es ist nur ein unklares Gefühl. Als hätte ich irgendeine Kleinigkeit wahrgenommen oder beinahe wahrgenommen, und sie war mir im letzten Moment entglitten. Abermals mustere ich das Zimmer. Im Großen und Ganzen ein anständiges Hotelzimmer. Sessel mit Stehlampe. Ein kleiner, eleganter Schreibtisch, Telefon. Ein Dutzend kleiner, aber geschmackvoll ausgewählter Gegenstände, die Behaglichkeit verbreiten. Angefangen mit dem Tisch und dem gehämmerten Aschenbecher darauf bis zu dem Aquarell an der Wand. Seine weichen Farben passen gut zu dem hellen Teppich. Und bis zu den vor das Balkonfenster gezogenen Gardinen, von wo aus man tagsüber einen Blick auf den Eiffelturm hat.
    Die Vorhänge habe ich zugezogen. Man braucht von draußen nicht unbedingt den starken Strahl des Scheinwerfers sehen, der auf das Bett gerichtet ist. Ein scharfer, blendender Kreis wandert über die Bettdecke, und alles, was er erfasst, wird gleichsam vergrößert und aus den anderen Dingen herausgelöst. Die sonst kaum wahrnehmbaren Falten und Vertiefungen auf der Decke und Kissen sehen jetzt wie tiefe Rinnen auf einer Reliefkarte aus. Sie sind der Abdruck eines menschlichen Körpers.
    Überall im Zimmer gibt es Spuren, die ein Laie nicht bemerken würde. Oder besser: Er würde nur die bemerken, die ins Auge fallen – die halb gerauchten Zigaretten im Aschenbecher, die zerrissenen Blätter im Papierkorb, das achtlos über die Stuhllehne gehängte Sakko. Und vielleicht die Aufkleber unbekannter Hotels auf dem Koffer, der auf dem Holzgestell liegt. Spuren sind überall. Doch ehe etwas unternommen wird, muss das Zimmer mit den sichtbaren und unsichtbaren möglichen Hinweisen mindestens zweimal fotografiert werden.
    Sophie Durand, meine Assistentin, geht auf Zehenspitzen durch den Raum, während die Kamera leise in ihren Händen surrt. Ihr großes schwarzes Auge folgt wie hypnotisiert dem Kreis des Scheinwerfers. Dieser Kreis wandert über das Bett, knickt an der Kante des Nachtschränkchens ab und verharrt dort auf dem, was mich im Augenblick am meisten interessiert. Es ist eine Spritze mit Nadeln, sorgfältig auf den veredelten Stahldeckel des Spritzenbehälters gelegt. Der Behälter selbst liegt daneben, darin etwa zehn leere Ampullen. Ihre abgeschnittenen gläsernen Spitzen liegen auf dem Schränkchen verstreut.  
    Ich trete näher, Sophie dreht den Scheinwerfer, damit ich die Aufschriften auf den Ampullen lesen kann. Das erklärt alles. Neun Ampullen Morphinchlorid reichen aus, um jeden von uns ins Paradies zu befördern. Der ehemalige Bewohner des Zimmers hatte es offenbar eilig zu sterben.
    Ich versuche mir vorzustellen, wie es gewesen sein könnte. Er kam nachts ins Hotel, lief durch den dämmrigen Korridor und schloss behutsam auf, zog dann die Tür hinter sich zu und ging ins Zimmer, ohne im Vorraum Licht zu machen. Dort hängt ein Spiegel an der Wand, vor dem er sich gefürchtet hat. Danach öffnete er seine Reisetasche und nahm die Spritze mit den Ampullen heraus. Beim Licht der Nachttischlampe sägte er sorgfältig die Glasspitzen ab und zog die Flüssigkeit in die Spritze, mit geschickten, sparsamen Handgriffen, wie er das schon so oft getan hat. Vielleicht dachte er dabei an etwas, vielleicht auch nicht.
    In solchen Minuten denken die Menschen nicht, um nicht vor Angst ihr Vorhaben zu vergessen, oder es geht ihnen unablässig etwas Quälendes durch den Kopf. Er schaltete das Licht aus und setzte sich im Halbdunkel auf die Bettkante. Nur das bewegte Leuchten des Werbeschildes auf der Straße schimmerte durch den Raum. Er nahm die Spritze und stieß sich die Nadel mit einem Ruck, wie das nur erfahrene Morphinisten können, in den Schenkel. Möglicherweise hat er gezögert und dann erst den Kolben hinuntergedrückt. Danach legte er die Spritze auf das Nachtschränkchen, lehnte sich zurück und blieb mit offenen Augen liegen, während die länglichen blauen Rhomben von draußen weiterhin über die Wände krochen, nur dass er sie nicht mehr beachtete. Er dachte an etwas Schönes, aus der Kindheit oder Jugend, woran zu denken es sich lohnt, bevor man stirbt. Kann auch sein, es war alles ganz anders, aber das weiß ich nicht.
    Bis jetzt weiß ich nur, was im Hotel geschehen ist. Ich habe einen Anruf einer Unbekannten um Mitternacht in der Rezeption, einen nervösen Empfangschef und den Namen des

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