Paul ohne Jacob
schon Millionen Mal gehört.
Als Paul klein war, hatte Daddy ihm dieses Lied vorgespielt und vorgesungen, in seinem alten Zimmer im New Yorker Apartment, lange vor Jacobs Geburt. Aber bei dieser Erinnerung begann Paul an Jacob zu denken. Das musste aufhören.
Er machte sich wieder an seine Seite mit Matheaufgaben. Schon bald hatte er Daddys Spielen und Singen ausgeklinkt. Im ersten Augenblick bekam er gar nicht mit, dass an seine Tür geklopft wurde; das hörte er erst, als es lauter wurde.
Er stand auf, ging zur Tür und schloss auf. Sein Vater kam ins Zimmer, räumte einen Bücherstapel und ein paar hingeworfene Kleidungsstücke von einem Stuhl und setzte sich.
»W as machst du gerade?«, fragte sein Vater und lächelte ihm zu.
»Mathe. Hausaufgaben«, antwortete Paul.
»Irgendwelche Probleme damit?«, fragte sein Vater.
»Nein«, sagte Paul. Er sprach lauter, als er es eigentlich beabsichtigt hatte.
»Das habe ich auch nicht angenommen«, bemerkte Daddy. Dann, nach einigem Schweigen, sagte er: »Im September wirst du zwölf.«
»Ja.«
»Ich dachte, dass du uns vielleicht noch auf eine andere Weise helfen könntest als damit, dass du so ein guter Schüler bist und wunderbare Aufsätze schreibst«, sagte Daddy.
Paul sah ihn misstrauisch an.
»Nach seinem Geburtstag am Ende des Monats wird Jacob auf eine besondere Schule gehen.« Daddy sprach so steif, als würde er einen Text vorlesen. »In der Schule gibt es noch mehr solche Kinder wie ihn. Er wird dort eine Menge lernen. Auf diese Weise bereitet man ihn aufs Leben vor«, fuhr er fort.
Dann sprach er so voller Gefühl, wie Paul es sonst nicht an ihm kannte. »Das hat deiner Mutter und mir solche Angst gemacht … dass er vielleicht kein eigenes Leben führen kann, wenn er erwachsen ist.« Dr. Coleman starrte zu dem viereckigen Stück Dunkelheit im Fenster hin. Als er den Kopf wandte und Paul ansah, waren seine Augen wie bei einer großen Anstrengung weit aufgerissen.
»Die Leute dort in der Schule haben uns gesagt, dass Menschen wie Jacob einen Beruf lernen können. Er wird in der Lage sein, sich selbst zu ernähren. Er wird richtiges Geld verdienen«, sagte er.
»W ann fängt er dort an?«, fragte Paul.
»Sein siebter Geburtstag ist am Sonntag in zwei Wochen«, sagte Daddy.
»Ich weiß«, sagte Paul. »W ird er den ganzen Tag dort bleiben?«
Das Lachen seines Vaters ließ ihn verdutzt zusammenfahren. »Er ist eine wahre Landplage, was?«
Paul konnte sich nicht daran erinnern, dass Daddy je zuvor so ganz normal und alltäglich von Jacob gesprochen hatte.
Aber wenn er jetzt seinem ersten Impuls folgte und Daddy zustimmte, würde das bedeuten, dass er sich mit allem einverstanden erklärte, was seine Eltern im Lauf der Jahre über Jacob gesagt hatten – dass Jacob nur wenig zusätzliche Mühe machte, dass sie eine ganz normale Familie wären.
Paul dachte an den Anfang des Gesprächs zurück. »W as soll ich machen?«, fragte er mit Groll in der Stimme.
»W ir möchten dich bitten, ihn morgen früh zu Dr. Brill zu bringen, damit er die Spritzen gegen seine Allergie bekommt. Und dasselbe dann noch mal am nächsten Samstag. Jacob liebt den Weg dorthin. Du wirst sehr viel Zeit dafür einplanen müssen. Er trödelt nämlich. Wenn du mit ihm hingehst, hat deine Mutter Zeit und kann Mrs Brandy ihre Klavierstunden geben. Sie musste ihre normalen Stunden absagen, weil ihre Enkelkinder zu Besuch –«
Paul fiel ihm ins Wort. »Nein!«, rief er.
Der Gesichtsausdruck seines Vaters veränderte sich, wurde härter. Bis jetzt hatte in seinen Worten ein entschuldigender Tonfall mitgeschwungen.
Mit der groben Stimme, die Paul das Gefühl gab, niemandes Kind zu sein, sagte er: »Du wirst hier nicht gefragt.«
»Aber alle werden mich anstarren!«, rief Paul aus.
»Na und?«, sagte Daddy trocken.
»Die anderen Kinder werden mich mit ihm sehen«, murmelte Paul.
»Alle wissen über Jacob Bescheid«, sagte sein Vater. Paul spürte, wie ihm ein Schauer durch den ganzen Körper lief. Er stellte sich vor, dass alle Kinder von Brasston über Jacob Bescheid wussten, malte sich aus, was George dazu sagen würde, George, der über die Lehrer, die anderen in der Klasse und fremde Leute auf dem Bürgersteig die allerschlimmsten, allerkomischsten Sachen sagte, bei denen sich Paul vor Lachen krümmte.
Sein Vater hob einen von Pauls Turnschuhen vom Boden auf und drehte ihn langsam hin und her.
»Das ist aber etwas anderes – man wird uns zusammen sehen «, sagte Paul
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