Paul ohne Jacob
zwischen seinem Inneren und seinem Äußeren. Wenn er rülpste, sahen Mom und Daddy ihn besorgt an. Wenn er weinte, flogen sie zu ihm hin, wie Schwalben in der Dämmerung zu den Traufen der Häuser fliegen.
»Du musst deinem Kätzchen einen Namen geben«, sagte Daddy zu Jacob. Das Kätzchen zappelte und entwand sich Jacobs unbeholfenem Griff. Es hüpfte durch das Wohnzimmer, wobei die Pfoten in schneller Folge den Boden berührten wie lauter Stakkato-Klänge auf dem Klavier.
Jacob rief: »Ach, Kater!«
Paul machte sich auf den Weg durchs Wohnzimmer, zur Treppe hin. Dabei spitzte er bereits die Lippen, um zu sagen, dass er Schularbeiten machen musste – falls sie ihn fragen sollten, wo er hinwollte.
»Er heißt Paul!«, verkündete Jacob.
»Nein!«, rief Paul aus.
Er konnte Jacob nicht ansehen. Er wusste genau, was für ein niedergeschmettertes Gesicht Jacob jetzt machte.
»V ielleicht können wir uns einen anderen Namen für das Kätzchen ausdenken, Jacob-Schatz«, sagte seine Mutter. »W oher soll Paul denn sonst wissen, dass wir nicht ihn rufen?«
Sie lachte, aber Paul konnte erkennen, dass es ein künstliches Lachen war.
Jacob schien Pauls Nein jedoch gar nicht gehört zu haben. »Ich nenne ihn Jack!«, rief er aufgeregt. »W ie in der Geschichte von Jack und den Bohnenstangen!«
»W underbar«, sagte Mom.
»Großartig«, sagte Daddy.
Paul floh die Treppe hinauf und ging in sein Zimmer. Es war schon schlimm genug, dass Jacob dem Kätzchen den Namen Paul hatte geben wollen. Und dann noch dieses vorgetäuschte Lachen seiner Mutter!
Und auch Moms »w underbar« und Daddys »großartig« waren erzwungene Kommentare, mit denen sie die Wahrheit vertuschten. Sie waren erleichtert, das war alles. Bei Jacob war eine Krise vermieden worden. Keine Szene, keine Tränen.
Mit einem Mal fiel Paul auf, dass sie von Mrs Brandy genauso sprachen. Oh – sie ist so schön! So musikalisch! Sie gibt sich solche Mühe, obwohl sie doch Arthritis hat!
Aber er hatte die Flecken bemerkt, mit denen ihre Hände übersät waren. Er hatte die Falten um ihre Augen und den Mund gesehen. Ihr gingen die Haare aus. Sie wurde kahl!
Wie sie Jacob für die normalsten Sachen mit Lob überschütteten!
Paul fegte mehrere Bücher von seinem Schreibtisch und empfand eine vage Freude, als sie auf den Boden knallten. Niemand würde angerannt kommen, um nachzusehen, ob er gestürzt war.
Ein Gefühl von Verlassenheit überkam ihn; das war wie diese lustlose Stimmung, in die er an kalten Sonntagen verfiel, wenn eisiger Regen herabrauschte und er am Fenster stand und nach draußen starrte.
Er musste seine Autobiografie neu schreiben. Er schrieb: Die Familie meines Vaters kam vor hundert Jahren aus Nordirland. Die Vorfahren meiner Mutter hatten sich schon viel früher hier niedergelassen. Sie waren Schweden – oder Polen. Ich wurde im Beth Israel Hospital in New York geboren.
Sie hatten ihn im Taxi nach Hause gebracht. Er war im September zur Welt gekommen. Seine Mutter hatte sich keine Sorgen um ihn gemacht, weil er, wie sie sagte, ein rundum perfektes Baby gewesen war.
Er fügte dem, was er geschrieben hatte, noch ein paar weitere Sätze hinzu.
Jacob, mein Bruder, hat das Downsyndrom. Weil die Spalte an seinen Augenlidern schräg ist, sieht er irgendwie asiatisch aus. Er hat winzige Zähne und auch die Finger an seiner Hand sind klein. Ende April wird er sieben.
Paul legte eine Pause ein und starrte zur Decke hoch. Er malte sich aus, dass dort ein großes, tropfenförmiges Herz zu sehen wäre. Und darin stand sein Name und der seines Bruders.
Jacob war schöner. Das klang nach einer Eiche oder einem Löwen. Sein eigener Name war dagegen blass und wässrig.
»Ich bin der Löwe«, sagte er laut.
Er las durch, was er bisher geschrieben hatte. Dann fügte er noch einen Satz hinzu, den er vor Kurzem einmal gehört hatte. Wir haben nicht viel gemeinsam.
DR. COLEMANS BITTE
Am Abend jenes Tages im April, als Pauls Vater ihm auf dem Weg vom Haus zur Straße nachgelaufen war, ihn an den Schultern gepackt und ihn zu Jacob am Wohnzimmerfenster umgedreht hatte, hörte Paul durch die geschlossene Tür seines Zimmers Gitarrenklänge.
Sein Vater spielte und begann mit seiner hohen Tenorstimme zu singen:
»Der Fuchs in kalter Nacht, auf Beute erpicht,
bittet den Mond um ein wenig Licht …«
Jacob würde jetzt im Bett liegen und den Mund aufsperren, als hörte er das Lied zum ersten Mal und hätte es nicht
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