Paul ohne Jacob
Robert Brown recht gab. Jacob war ein Kretin.
»Es blutet nicht mehr«, sagte die Schwester.
Er bedankte sich bei ihr und verließ ihr kleines Sprechzimmer. Draußen auf dem Gang lehnte sein Freund George McCormick gemütlich an einem Schließfach.
»Du kriegst jetzt Tollwut«, sagte George grinsend.
»Das weiß ich«, sagte Paul mit einem gequälten Lächeln. Würde das von dem Biss kommen? Oder von Roberts Frage? Es war irgendwie gespenstisch, Georges Bemerkung zu hören, nachdem sich Paul im Sprechzimmer der Schulschwester insgeheim dasselbe gesagt hatte.
Als er am Nachmittag nach Hause kam, gab seine Mutter gerade eine Klavierstunde. Molly, die junge Frau, die Mrs Coleman für Jacobs Betreuung eingestellt hatte, spielte mit ihm im Esszimmer.
Spielen. Was hieß das schon, wenn es um Jacob ging? Grimassen schneiden, dachte Paul. Nur dass Jacob gar nicht erst Grimassen schneiden musste; sein Gesicht war sowieso schon eine verrückte Dauer-grimasse.
Bei diesem Gedanken durchzuckte Paul so etwas wie Scham, und er ging schnell in die Küche, froh darüber, dass keiner da war, der ihn auf den kleinen Verband an seinem Ohr ansprechen konnte. Er wählte Georges Nummer, und als sein Freund abnahm, sagte er »Hallo« und legte sofort wieder auf, wobei er sich vor Lachen kaum noch halten konnte. Bestimmt musste auch George lachen. Paul wartete einen Moment, dann rief er wieder an. Beim ersten Klingeln wurde am anderen Ende der Leitung abgenommen.
»W orum ging es bei der Schlägerei?«, fragte George.
Paul zögerte. Er hörte George atmen.
»Um meinen Bruder«, sagte er schließlich.
George fragte nicht weiter. Sie kamen auf andere Dinge zu sprechen und unterhielten sich über alles Mögliche: Schule und Hausaufgaben, Lehrer und andere Schüler, die bevorstehenden Ferien und was sie in dieser herrlichen Zeit, wenn die Schule geschlossen war, alles vorhatten.
Danach empfand Paul ein unbestimmtes Unbehagen, so als hätte er etwas weggelegt und wüsste nicht mehr, wo es war. Mit einem Mal überkam ihn Wut auf ein Honigglas, dessen Deckel er nicht aufbekam. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Wieso hatte George ihm nicht mehr Fragen nach der Schlägerei gestellt, die er mit Robert Brown gehabt hatte?
Paul trat ans Spülbecken, drehte den Warmwasserhahn auf und hielt das Honigglas darunter. Kurz darauf konnte er den Deckel abschrauben.
Später sah Paul Robert Brown noch hin und wieder in der Schule. Er war ungeheuer groß geworden und er trottete durch den Gang und ließ sich auf seinen Platz fallen, als wäre er sein eigener Wäschesack. Die anderen Kinder nannten ihn »Schlepper«. Paul und die Prügelei auf dem kalten Boden des Schulhofs hatte er offenbar vergessen.
Als Paul eines Nachmittags an Robert vorbeiging, der mit leerem Gesichtsausdruck an der Wand lehnte, konnte er sich nur mit Mühe die Frage verkneifen: »W er ist denn jetzt der Kretin?«
Nach der Schlägerei war etwas eingetreten, was Paul vor ein Rätsel stellte, wenn er darüber nachdachte. Er wurde ehrgeizig; er wollte sich hervortun, bei allem gewinnen – beim Fußballspielen, bei Prüfungen und Aufsätzen –, die besten Noten der Klasse bekommen, die besten Noten der ganzen Schule!
Es war, als drehte sich in seinem Inneren ein Rad mit riesiger Geschwindigkeit. Diesem inneren Tempo musste er seine äußeren Handlungen angleichen.
Zuerst war das schwierig, so als kletterte man mühsam einen steilen Berghang hinauf. Er rutschte aus; er strauchelte; fiel manchmal hin. Aber er kletterte immer weiter, bis die Geheimsprachen von Mathematik und Chemie sich ihm erschlossen.
Manchmal wollten seine Eltern seine Aufsätze sehen. »Sehr gut!«, riefen sie dann. Aber was sie sagten, spielte für ihn keine Rolle mehr. Nur die Eins zählte. Der mit Rotstift geschriebene Kommentar des Lehrers zählte: Eine ausgezeichnete Arbeit.
Er wurde Kapitän der Fußballmannschaft. Nur ein einziges Mal wurde er vom Trainer kritisiert. »Hey! Paul!«, sagte er. »Das ist ein Mannschaftsspiel! Du bist nicht der Einzige auf dem Platz.«
Jetzt bedauerte er es, dass er es abgelehnt hatte, sich von seiner Mutter Klavierunterricht geben zu lassen, als er klein war und seine Mutter ihn so gern unterrichtet hätte. Vielleicht hätte er sich auch darin hervorgetan.
Eine Woche vor den Weihnachtsferien gab der Englischlehrer, Mr Stang, der sechsten Klasse einen Aufsatz als Hausaufgabe auf. »Schreibt eure Autobiografie«, sagte er.
Am Nachmittag schloss sich Paul in
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