Peeling und Poker (Aargauer Kriminalromane) (German Edition)
Rock. Es geht mir so gut wie schon lange nicht mehr, dachte sie: ich bin fünfundvierzig und in den Augen vieler Männer immer noch attraktiv, wohne anonym und komfortabel in der Grossstadt, habe einen Liebhaber, der genau wie ich sein eigenes Leben führt. Meinen Lebenslauf habe ich neu geschrieben, so dass ein Unbeteiligter niemals auf die Idee käme, ich hätte meine Zeit in den USA anders verbracht als mit Arbeit und Weiterbildung. Eine renommierte staatliche Klinik hat mich wegen meiner Fachkenntnisse und sprachlichen Kompetenzen ausgewählt, und ich habe eine gut bezahlte Aufgabe gefunden, die mir Spass macht. Und dann höre ich heute von der Patientin Senn den Namen Truninger, und alles ist in Frage gestellt. Er kann mich jederzeit auffliegen lassen, meine neue Existenz zerstören, mich in den Ruin treiben.
The Winner Takes It All klang aus dem Radio.
„Das lasse ich nicht zu, du gewinnst nicht noch einmal!“ stiess sie zwischen den Zähnen hervor und stellte die Musik ab.
Samstag, 10. November 2007
Am nächsten Morgen um neun waren wieder mal alle im Büro versammelt: Peter Pfister, der einen wesentlich weniger verdrossenen Eindruck machte als in den letzten drei Tagen, Angela Kaufmann, gut gelaunt und aufmerksam wie immer, und Nick Baumgarten, der nach seinem Gespräch mit Andrew Ehrlicher für einmal früh schlafen gegangen war. Sie standen vor der Pinnwand, die alles enthielt was sie wussten: Fotos des toten und des lebenden Tom Truninger sowie der Tatwaffe, eine Aufzeichnung der Beziehungen Truningers mit Pfeilen und verschiedenen Farben, Zeitungsartikel der letzten Monate. Angela war stark im Visualisieren, und die beiden Männer hatten dieses Talent in den letzten Monaten schätzen gelernt. Es half, wenn man ein Bild des Falls hatte, auch ein unvollständiges, das man komplettieren konnte; man konnte die Bilder verschieben, die Pfeile anders zeichnen, Neues hinzufügen. Baumgarten und Pfister sassen an ihren Schreibtischen, Angela stand vor der Wand und versuchte, die bisherigen Ergebnisse zusammenzufassen.
„Wir haben relativ viel und doch praktisch nichts“, sagte sie und runzelte die Stirn, „es führen immer noch alle Spuren ins Leere. Der Griff des Messers gibt zwar einen verwischten Fingerabdruck her, von dem wir aber in der Datenbank keine Entsprechung haben. Auf den Videos der Abendstunden sind nur Angestellte des Casinos zu sehen, die ihrer normalen Tätigkeit nachgehen: Sicherheitschef Schifferli, Personalchefin Fuchs, zwei Leute aus der Finanzabteilung. Wir haben keine unüblichen Bewegungen auf den Konten der Truningers, eine ausserordentlich harmonische Familie, weder Feinde im Privatleben noch grosse Konflikte in der Firma. Irgendetwas müssen wir übersehen haben.“
„Weisst du, Angela, manchmal erfahren wir die wichtigen Informationen auch erst mit der Zeit. Ich habe gestern Abend nochmals mit Andrew Ehrlicher gesprochen und ihn gefragt, ob in der Ehe der Truningers alles zum Besten stand. Er hat mich zwar nicht gerade hinausgeworfen, aber es war klar, dass ich seine gute Freundin Maggie und das Andenken von Tom Truninger mit dieser Frage beleidigte. Es ist unwahrscheinlich, dass es aussereheliche Beziehungen gab. Andrew Ehrlicher bleibt vorläufig bei den Truningers und will uns weiterhelfen, wenn er kann.“
Nick lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Füsse auf den Tisch. „Peter, deine Grippe scheint sich verflüchtigt zu haben – ist daran etwa die Wasserleiche von gestern schuld?“
„Indirekt schon“,erwiderte Pfister mit kräftiger Stimme. „Der untersuchende Arzt hat mir ein paar Pillen mitgegeben, und die haben wunderbar gewirkt. Ich habe jedenfalls zehn Stunden tief geschlafen, und jetzt fühle ich mich wieder fit.“
„Was für eine Wasserleiche denn?“ fragte Angela. „Hat sie etwas zu tun mit unserem Fall?“
„Hoffentlich nicht, sonst hätten wir schon zwei Tote“, sagte Pfister. „Nein, ich musste am späten Nachmittag ausrücken, weil sonst keiner hier war und die Regionalpolizei sich nicht mehr allein um solche Sachen kümmern darf. Man fragt sich schon, warum bei so klaren Selbstmordfällen die Verantwortung bei der Kripo liegen muss. Auf jeden Fall müssten die Kollegen sie schon identifiziert haben, und ich bekomme dann den Bericht von der Obduktion.“
Nick nahm die Füsse vom Tisch und stand auf. „Haben wir die Liste der Casino-Mitarbeiter, die in letzter Zeit entlassen worden sind?“
„Ja, hier ist sie“,
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