Peeling und Poker (Aargauer Kriminalromane) (German Edition)
diesen Bruch in ihrem Leben bewältigt hatte.
Montag, 12. November 2007
„Frau Senn wurde entlassen, weil sie immer wieder von ihrem Wissen über unsere Mitarbeitenden und deren Privatleben Gebrauch machte“, sagte Elena Fuchs. „Es ging nicht um Geschäftsgeheimnisse oder ähnliches, sondern darum, dass Frau Senn beispielsweise die Geburtstage von Kadermitarbeitern und deren Familien an die grosse Glocke hängte. Ihre mütterliche Seite kannte keine Grenzen, und sie sah nicht ein, dass sie damit den Leuten zu nahe trat. Wir verwarnten sie zuerst mündlich, zwei Monate später schriftlich, und nach einem neuerlichen Vorfall sah sich Tom Truninger gezwungen, sie fristlos zu entlassen.“
„Wann war das?“ fragte Nick Baumgarten, der Frau Fuchs in ihrem Büro gegenüber sass.
Sie blätterte in ihren Unterlagen. „Anfang November des letzten Jahres, am 6., um genau zu sein.“ Sie blickte auf und fixierte Baumgarten mit ihren grossen, dunkelbraunen Augen, die heute ganz leicht geschminkt waren. Überhaupt sah sie weniger unscheinbar aus, trug ein rotes Top und rote Schuhe zu ihrem anthrazitfarbenen Kostüm. „Man könnte sagen, dass Tom auf den Tag genau ein Jahr nach der Entlassung von Sybille Senn ermordet wurde.“
„Interessant“, sagte Baumgarten, „kann aber auch Zufall sein. Wie hat denn Frau Senn auf die Kündigung reagiert?“
„Das ist ja das Schwierige an diesem Fall. Sie erlitt einen Nervenzusammenbruch und musste notfallmässig hospitalisiert werden. Sie verbrachte zuerst acht Wochen in der psychiatrischen Klinik, dann war sie wieder zuhause, dann wieder einen Monat in Königsfelden, und über die neuste Entwicklung bin ich nicht informiert. Ich kann Ihnen aber die Geschäftsnummer ihres Mannes geben, dort erhalten Sie sicher mehr Informationen.“
Eine ungewöhnliche Reaktion auf eine Entlassung, dachte Nick, aber wenn man seine Arbeit über alles liebt – schon möglich. „Wie haben Ihre Mitarbeiter diese Nachricht aufgenommen?“
„Sehr unterschiedlich“, antwortete Elena und legte ihre Stirn in Falten. „Tom Truninger und ich wurden von einigen Leuten als Bösewichte tituliert, die eine sensible Frau an den Rand des Wahnsinns getrieben hätten. Ich versuchte, durch eine offensive Informationspolitik den Schaden in Grenzen zu halten und erklärte den Mitarbeitenden, dass eine solche Krankheit nicht durch ein bestimmtes Ereignis entsteht, dass sie jedoch dadurch ausgelöst werden kann. Ich hielt meine Leute auch auf dem Laufenden, was den Gesundheitszustand von Frau Senn anbelangte, und es gab mehrere Personen, die sie in der Klinik besuchten. Tom Truninger hat sich finanziell grosszügig gezeigt und trotz der fristlosen Kündigung weitere sechs Monatslöhne ausbezahlt. Seit einem halben Jahr ist es ruhig, niemand fragt mehr nach ihr, und die Aufregung hat sich gelegt. Ehrlich gesagt bin ich froh darüber, dass der Fall langsam in Vergessenheit gerät.“
„Schlechtes Gewissen?“ fragte Baumgarten lächelnd.
„Auch das, ja. Ein paar schlaflose Nächte hat mich das schon gekostet, das kann ich Ihnen sagen“, lächelte Elena leicht gequält zurück. „Ich habe viel erlebt in meinen über zwanzig Jahren als Personalchefin, aber das war das erste Mal, dass ein Leben so aus den Fugen geriet auf Grund meines Handelns.“
„Aber es war doch Truninger, der die Entlassung aussprach?“
„Natürlich, aber die schriftliche Kündigung, die begleitete Räumung des Arbeitsplatzes, das Abnehmen von Schlüssel, Parkkarte und Badge fiel mir zu. Wissen Sie, in meiner Rolle führt man oft die Dinge aus, die woanders entschieden werden. Die Betroffenen sehen dann nur, dass jemand wie ich, die in ihren Augen die Interessen des Personals vertreten sollte, genau das Gegenteil tut – und sie machen mich dafür verantwortlich. Aber damit lernt man leben, Herr Baumgarten, ebenso wie Sie, wenn Sie jemanden hinter Gitter bringen.“
Elena stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. „Ich habe leider jetzt einen Termin, aber rufen Sie doch Herrn Senn an und lassen Sie mich wissen, wie es seiner Frau geht. Auf Wiedersehen, Herr Baumgarten.“
Er verabschiedete sich höflich und wusste intuitiv, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Sie hatte ihm zwar vermutlich die Wahrheit erzählt, aber sicher nicht die ganze Wahrheit. Wie Personalchefin Fuchs wohl reagieren würde, wenn sie erfuhr, dass Sybille Senn nicht mehr lebte?
Oktober 2007
„Frau Senn, es scheint Ihnen besser zu gehen als
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