Peeling und Poker (Aargauer Kriminalromane) (German Edition)
mit dem Polizeikommandanten abgesprochen, Herr Doktor Müller, und der wiederum hält den Gesundheitsdirektor über die Ergebnisse auf dem Laufenden. Verständlicherweise hofft mein Vater, dass sich unser Verdacht nicht erhärtet, aber er wird unsere Ermittlungen nicht beeinflussen. Können wir jetzt zurückkommen auf die Frage von Herrn Baumgarten, Frau Doktor Fischer?“
„Selbstverständlich, Frau Kaufmann.“ Die Stimme von Viktoria war gepresst, ihr Selbstvertrauen schien nicht mehr so stark zu sein wie bei ihrem letzten Gespräch mit Nick. „Ich habe in den Sitzungen versucht, die Lebenskraft von Frau Senn zu stärken und sie dazu zu bringen, an eine Zukunft zu glauben. Für schwer depressive Patienten ist jede Kleinigkeit zuviel, nichts ergibt einen Sinn. Es ging mir darum, Frau Senn zu vermitteln, dass ihr Leben nicht unnütz war, und dass es Dinge gab, wofür es sich zu leben lohnte.“
„Was für Dinge?“ Nick unterbrach die Ärztin. „Worum ging es konkret? Ihre allgemeinen Ausführungen bringen uns nicht weiter.“
Er beobachtete, wie eine Ader in Doktor Fischers Hals anschwoll und zu pulsieren anfing. Sie wird wütend, dachte er zufrieden.
„Es ging vor allem um ihr engstes Umfeld, Herr Baumgarten, wie zum Beispiel ihren Mann, ihre Arbeit, ihre Hobbies. Vor ihrer Erkrankung liebte sie ihren Garten, und wir versuchten mit Gesprächs- und Arbeitstherapie, diesen Funken wieder anzuzünden.“
„Uns interessieren vor allem die Themen aus dem Bereich der Arbeit, insbesondere ihre Anstellung im Casino. Sie war der Ansicht, dass ihre Entlassung völlig ungerechtfertigt war. Wie hat Sie mit Ihnen darüber gesprochen, und was waren Ihre Empfehlungen?“
Doktor Müller räusperte sich und griff ein. „Wir geben grundsätzlich weder Ratschläge noch Empfehlungen, Herr Baumgarten. Ratschläge sind auch Schläge, wie es so schön heisst, und unsere ethischen Grundsätze verbieten uns, unsere Patienten auf diese Weise zu steuern. Dies hat damit zu tun, dass insbesondere in der Psychiatrie ein Abhängigkeitsverhältnis besteht zwischen Arzt und Patient. Das darf von uns nicht ausgenützt werden.“
Angela fixierte Viktoria Fischer, die unruhig in ihren Akten blätterte. „Und genau das werfen wir Ihrer Mitarbeiterin vor, Herr Doktor Müller. Wir wissen, dass Sybille Senn mit ihrem Mann von Gerechtigkeit gesprochen hat. Zwei Tage vor dem Mord telefonierte Frau Senn mit ihm und sprach explizit davon, sie dürfe für Gerechtigkeit sorgen, sie habe die Erlaubnis ihrer Ärztin.“
Nick beobachtete, wie Doktor Müller die Stirn runzelte und Viktoria besorgt musterte: die Front bröckelte, das konnte er spüren.
Doktor Fischer schüttelte nervös den Kopf, und ihre Worte kamen schnell und überstürzt: „Das muss ein Missverständnis sein. Herr Senn hat etwas falsch verstanden oder interpretiert –“
„Viktoria“, unterbrach Doktor Müller mit fester Stimme, „was Frau Kaufmann sagt, beunruhigt mich sehr. Ich möchte von dir wissen, in welchem Zusammenhang du den Begriff der Gerechtigkeit mit deiner Patientin besprochen hast.“ Er machte eine Pause. „Ich denke, der Moment für die Wahrheit ist gekommen.“
Viktoria erhob sich und trat ans Fenster. Sie schaute lange hinaus in das fahle Winterlicht, und als sie sich wieder umdrehte, war die Fassade von Stolz und Professionalität verschwunden, sie wirkte wie ein kleines Mädchen. Leise, monoton, ohne Emotionen kam das Eingeständnis. „Ja, ich habe Sybille Senns Wunsch nach Gerechtigkeit oder sogar nach Rache missbraucht, um eine eigene Rechnung zu begleichen. Ich habe sie bestärkt in dem Gefühl, dass ihr Unrecht geschehen sei und sie sich rächen dürfe. Ich habe sie frei fantasieren lassen, habe sie nicht gestoppt, wenn sie sich ausmalte, wie sie Tom Truninger verprügeln wollte. Ich gab ihr einen Stock, mit dem sie auf ein Kissen einschlagen konnte, ermunterte sie dazu, ihre Wut auf ihn herauszuschreien. Ich habe mich sogar dazu hinreissen lassen, meine eigenen Gefühle mit den ihren zu vermischen und mitzubrüllen, wenn sie schrie, sie werde ihn umbringen.“
Die Ärztin holte tief Luft. „Aber, und jetzt kommt das grosse Aber, ich glaubte in keinem Moment daran, dass Frau Senn diese Gefühle und Vorstellungen in die Realität umsetzen könnte. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass sie allerhöchstens Truninger in seinem Büro aufsuchen und ihn beschimpfen würde, ihm vielleicht mit ihren verbalen Drohungen einen kleinen Schrecken
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