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Perfect Copy - Die zweite Schöfung

Perfect Copy - Die zweite Schöfung

Titel: Perfect Copy - Die zweite Schöfung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Eschbach
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toll.
     
    Er besah sich noch einmal die Aufgaben. Völliger Irrsinn, was Rittersbach ihm da zutraute.
    Das wurde allmählich zur Epidemie, oder? In seiner Umgebung schien jeder plötzlich versessen darauf, irrsinnige Erwartungen an ihn zu entwickeln. Weltklassemusiker. Mathematikgenie. Was denn noch alles?
     
    Klar, wirkliche Mathematiker beschäftigten sich vor allem damit, irgendwelche Zusammenhänge zu beweisen. Doch wie so etwas in der Praxis aussah, davon hatte er doch keinerlei Ahnung. Im Mathematikunterricht ging es darum, das Vol u men von Körpern auszurechnen oder quadratische Gleichu n gen zu lösen, nie um Beweise. Oder jedenfalls so gut wie nie. Gut, den Satz des Pythagoras hatten sie damals bewiesen bekommen und noch so ein paar Sätze, aber da waren sie einfach den Schritten gefolgt, die der Lehrer vorgemacht hatte, hatten im besten Fall verstanden, wieso aus dem einen logisch zwingend das andere folgerte – doch auf derartige Beweise selber zu kommen, das hatte nie jemand von ihnen verlangt.
     
    Er las die Aufgaben noch einmal durch. Je öfter er das tat, desto weniger begriff er, was dastand. Er hatte nicht die leiseste Vorstellung, wie er auch nur eine davon anpacken sollte. Und um nichts in der Welt wollte ihm klar werden, wie Rittersbach auf die Idee hatte kommen können, dieser Wettbewerb sei etwas für ihn. Tja. Noch jemand, der eines Tages enttäuscht von ihm sein würde.
    Wolfgang legte die hellblauen Blätter weg und glotzte trübsinnig zum Fenster hinaus. Die Frage stellte sich allmählich, ob er eigentlich überhaupt zu irgendwas taugte? Er entdeckte einen Vogel, der auf einem Fichtenast saß, mit dunklen Knopfaugen direkt zu ihm herüberschaute und dabei den Kopf von einer Seite zur anderen legte, als hätte er auch so seine Zweifel.
    In diesem Augenblick hörte Wolfgang, wie jemand nach ihm rief. Vater, merkwürdigerweise. Was machte der denn so früh zu Hause? Er öffnete die Tür seines Zimmers und trat an die Galerie, von der aus man in die Eingangshalle hinabsehen konnte.
    »Ah«, sagte Vater. Er stand mitten auf dem Perserteppich, im Anzug und in Straßenschuhen, die Autoschlüssel noch in der Hand. Er musste gerade eben zur Tür hereingekommen sein. »Du bist schon da?«
    »Ja, klar«, erwiderte Wolfgang.
    »Ich war mir nicht sicher… Dienstag ist es, nicht wahr? Euer Nachmittagsunterricht. Ich war mir nicht sicher, ob es Dienstag war oder Mittwoch.«
    »Dienstag«, nickte Wolfgang. »Das mit Mittwoch war letztes Schuljahr.«
    »Ach so. Genau. Das war es.« Vater wirkte merkwürdig konfus. Und die Art, wie er während des Sprechens ohne Unterlass mit den Autoschlüsseln herumspielte, kannte man auch nicht an ihm. »Sag mal, was ich dich fragen wollte… Ach, deine Mutter ist nicht da, oder?«
    »Sie ist zur Gärtnerei gefahren, glaube ich.«
    »Ach so, ach so. Ja.« Er nickte, sah fahrig umher, musterte den Garderobenspiegel, als habe er ihn noch nie zuvor gesehen. »Sag mal, auf dem Heimweg von der Schule – war da irgendwas?«
    Wolfgang hatte das Gefühl, in einem schlechten Traum gelandet zu sein. »Bitte?«
    »Hat dich irgendjemand… angesprochen?« Der Blick, mit dem Vater zu ihm hochsah, hätte in einen Horrorfilm gepasst.
    Was war bloß los? Aus irgendeinem Grund musste Wolfgang plötzlich an die Statistiken denken, von denen man ab und zu las. Dass Arzte weitaus häufiger drogensüchtig wurden als Angehörige jedes anderen Berufsstandes.
    »Nein«, sagte er.
    »Oder ist dir jemand gefolgt? Hast du irgendwas bemerkt, dass dir vielleicht jemand gefolgt ist?«
    »Nein, wieso? Wer sollte mir denn folgen?«
    Vater winkte ab und atmete so geräuschvoll aus, als habe er die ganze Zeit die Luft angehalten. »Ach, nur so«, sagte er. Er warf die Autoschlüssel in die alte handgeschnitzte Holzschale, die auf dem Garderobenschränkchen stand und als Versammlungsort sämtlicher Schlüssel des Hauses Wedeberg diente.
    »War nur so ein Gedanke.«
     
    Ein reichlich merkwürdiger Gedanke, fand Wolfgang. Er blieb stehen, doch Vater würdigte ihn keines Blickes mehr, sondern streifte die Schuhe ab, hängte sein Jackett auf einen Bügel, schlüpfte in seine Hausschuhe und entschwand ins Arbeitszimmer, dessen Tür er sorgsam hinter sich schloss. Kurz darauf erklangen die ersten Takte der Götterdämmerung.
     
    Wolfgang spürte das dringende Bedürfnis, sich die Stirn zu massieren, kräftig und mit beiden Händen, weil anders das skeptische Stirnrunzeln darauf wahrscheinlich nie wieder

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