Perfect Copy - Die zweite Schöfung
Vater zur Weißglut getrieben. Der Mann hatte die Prozesse natürlich verloren, aber nervenaufreibend war es dennoch gewesen.
Die Uhr. Die kleine Pause endete in einer Minute. Keine Zeit, sich den Kopf zu zerbrechen. Er eilte in sein Zimmer, fischte die Wettbewerbsunterlagen aus dem zum Glück unberührten Papierkorb und stopfte alles zurück in den Umschlag. Dann fiel ihm ein, an seinem verschwitzten Hemd zu schnüffeln – au weia! Nicht das richtige Parfüm für das, was er vorhatte. Er zerrte es sich vom Leib, rieb die Achselhöhlen trocken, half mit dem Deostift nach und streifte hastig ein anderes, ähnlich aussehendes Hemd über. Noch ein Blick auf die Uhr. Überschallgeschwindigkeit war angesagt. Er schnappte sich den Umschlag, schoss die Treppe hinab und zur Tür hinaus, ohne jemandem zu begegnen, und wenige Augenblicke später sah man ihn in halsbrecherischem Tempo die Straße hinabbrettern.
Elf Minuten nach Unterrichtsbeginn betrat er das Klassenzimmer wieder. Frau Zweig, die stets irgendwie zerknittert wirkende Deutschlehrerin, unterbrach den Unterricht, betrachtete ihn aus ihren metallschwarzen Mäuseaugen und winkte ihn dann zu sich heran.
»Wenn dein Durchfall so schlimm ist«, sagte sie halblaut und wechselte einen kurzen Blick mit dem ungewohnt sorgenvoll dreinblickenden Cem, »dann solltest du vielleicht besser nach Hause gehen.«
Wolfgang bemühte sich um einen tapferen Gesichtsausdruck. »Danke«, nickte er matt, »aber ich glaube, es geht schon.«
Aus den Augenwinkeln sah er Cem grinsen.
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Svenja erwartete ihn wirklich vor der Oberstufenbibliothek. Und sie war wirklich allein.
Wolfgang hatte Marco den ganzen Tag über ebenso aufmerksam wie unauffällig beobachtet, aber keinerlei Andeutung aufgeschnappt, dass er etwas von dieser Verabredung wusste. Tatsächlich war er nach dem Ende der vierten Stunde mit seinen zwei besten Kumpels fröhlich abgezogen, und erst da hatte Wolfgang glauben können, dass Cem Recht behalten würde.
»Hi«, sagte er und zückte den hellblauen Umschlag, dem man nicht ansah, dass er schon Bekanntschaft mit einem Papierkorb gemacht hatte.
Sie lächelte, schob die Chipkarte in den Leser an der Tür, und sie betraten die Oberstufenbibliothek.
Wolfgang war noch nie hier gewesen. Im Gegensatz zur allgemein zugänglichen Schülerbibliothek, in der man vorwiegend Romane, alte Spielfilme und Musik ausleihen konnte, war diese Bibliothek dem Wissen gewidmet. Beeindruckende Lederbände, manche davon in Englisch oder Französisch betitelt, standen in Reih und Glied auf den Regalen, wissenschaftliche Zeitschriften lagen ordentlich in schrägen Auslagen, und zwei Computer neuester Bauart warteten nur darauf, dass man sie einschaltete, um im Internet oder auf einer der zahlreichen CDs in dem Regal daneben zu recherchieren. Es roch angenehm nach Staub und Papier, und es war unglaublich still. Sie waren die einzigen Besucher.
Allerdings nicht unbeobachtet. Durch eine große Trennscheibe sah man in das Schülersekretariat, und eine der dort arbeitenden Frauen platzte geräuschvoll herein, kaum dass Wolfgang und Svenja sich einen Platz an einem der Tische gesucht hatten. »Sind Sie die Neuntklässler, die Herr Rittersbach angekündigt hat?«, wollte sie wissen.
»Ja«, sagte Svenja.
»Kann ich die Chipkarte sehen?«, schnarrte sie. Die Prüfung erbrachte keinen Einwand. »Wenn Sie Bücher ausleihen wollen, müssen Sie durchs Sekretariat kommen, zum Verbuchen«, wurden sie belehrt. »Was Sie durch diese Tür raustragen, löst Alarm aus, und das kostet jedes Mal fünf Euro, selbst wenn's ein Versehen ist. Bei uns kann man fotokopieren, und wir verkaufen auch Disketten, wenn Sie was von den CDs kopieren wollen. Im Übrigen werden CDs und Bücher mit einem roten Streifen am Buchrücken nicht verliehen.« Sie reichte Svenja die Chipkarte zurück. »Noch Fragen?«
Svenja schüttelte den Kopf. »Alles klar.«
Als die Tür zum Sekretariat wieder zufiel, schien die Stille noch stiller als vorher zu sein. Wolfgang kam das Geräusch seines eigenen Atems unnatürlich laut vor. »Wenn die alle so behandelt, wundert es mich nicht, dass hier niemand ist«, meinte er.
Svenja schüttelte den Kopf. »Die Oberstufenschüler kommen immer nachmittags und abends«, sagte sie und fügte erklärend hinzu: »Einer meiner Brüder macht gerade Abi.«
»Ach so«, meinte Wolfgang. Im Grunde war es ihm egal. Er zog einen Schreibblock heraus und die Wettbewerbsaufgaben, aber eher der Form halber.
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