Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
des Verstandes Dinge zu erklären, ja sogar Widersprüche in den Aussagen von Propheten, Aposteln und Kirchenvätern zu hinterfragen und zu analysieren. Stunde um Stunde hatte Elysa über all jenen Büchern gesessen, die ihr der Onkel kurz vor seinem Tod vermacht hatte. Natürlich nur heimlich und ohne das Wissen der Großmutter, denn die war eine strenggläubige Frau, die in den aufrührerischen Gedanken und der Hinterfragung christlichen Gedankenguts nur einen weiteren Beweis für das Ende des sechsten Zeitalters sah, in dem sich die Welt unweigerlich auf den Untergang zubewegte.
Elysa jedoch war fasziniert von den neuen Sichtweisen der Scholastik. Und mit jedem Wort, das sie verschlang, begriff sie, dass die Welt eine andere war, als man ihr auf Burg Bergheim stets hatte einflüstern wollen.
Doch nun, da ihr Bruder Magnus sich entschlossen hatte, dem Aufruf zur heiligen Heerfahrt zu folgen, sollte sie als Statthalterin zurückkehren. Zurück in jene Burg, die sie im Alter von acht Jahren verlassen musste und an die sie nur abscheuliche Erinnerungen hatte.
Der Nebel nahm zu, ebenso die Dunkelheit. Bald schon würde der Fluss vollends in der Schwärze der Nacht versinken und den Schiffern die Weiterfahrt erschweren.
Der scharfe Wind drang durch den Stoff und löste in Elysa einheftiges Zittern aus. Inständig sehnte sie sich nach dem prasselnden Feuer eines Kamins und nach einer weichen Decke, die ihre Glieder wärmte. Bequemlichkeiten, die sie in Eibingen wahrscheinlich nicht vorfinden würde.
»Warum nächtigen wir nicht im Kloster Rupertsberg? Es wäre standesgemäßer.«
»Es gibt einen guten Grund.« Clemens von Hagen nahm seinen schwarzen Mantel ab und legte ihn Elysa fest um die Schultern. »Ich habe eine Botschaft zu übermitteln.«
»Vom Erzbischof?«
»Woher wisst Ihr?«
»Das Pergament, das Ihr eingesteckt habt, bevor wir den Prahm bestiegen, trägt sein Siegel.«
Es war ihr, als unterdrücke er ein Lächeln.
Elysa spürte das Gewicht des warmen Stoffes. Langsam ließ das Zittern nach. »Was ist das für eine Botschaft?«, fragte sie.
»Ihr seid sehr wissbegierig. Euer Onkel erwähnte es.«
Bernhard von Oberstein, ihr Onkel und väterlicher Freund, Magister Scholarum in der Domschule zu Mainz. Sein Tod hatte ein tiefes Loch in ihr Leben gerissen, und nun musste Elysa auf Geheiß ihres Bruders Magnus auch noch den Ort ihrer Jugend verlassen, der ihr vertrauter war als der Stammsitz der Familie. Je näher sie der Burg kamen, umso schwerer fiel es ihr, das Schicksal anzunehmen, das er für sie auserkoren hatte. Nun war es Nacht, und sie mussten im Kloster einkehren, morgen aber würde sie auf der Familienburg eintreffen.
Unvermittelt fuhr Clemens von Hagen fort. »Bevor wir in Eibingen ankommen, sollte ich Euch den Grund der erzbischöflichen Botschaft enthüllen, um Euch auf unseren Aufenthalt vorzubereiten.« Er wandte seinen Blick zum rechten Rheinufer. »Es geschehen dort Dinge, von denen Ihr wissen solltet.«
»Was sind das für Dinge?«
»Man sagt, der Teufel habe im Kloster Einzug gehalten.«
»Der Teufel?« Unwillkürlich tastete Elysa nach dem Kreuz, das sie um den Hals trug.
Clemens von Hagen blickte zum Schiffer, der in seiner Bewegung innehielt, und senkte die Stimme. »Es heißt, er sei in der Gestalt eines seelenlosen Mönches gekommen und treibe seit dessen Tod dort sein Unwesen.« Er schwieg kurz, als müsse er seine Gedanken sammeln. »Eine Nonne starb unter entsetzlichen Krämpfen«, fuhr er flüsternd fort. »Plötzlich und ohne jede erkennbare Ursache. Eine weitere wäre fast bei einem Brand umgekommen, der ein Seitenschiff der Kirche nahezu zerstörte, ebenso wie einen Teil des Skriptoriums. Vom Hildegardisaltar verschwand ein Schrein mit Reliquien der Meisterin, kurz darauf fanden Nonnen ihn zerschmettert und leer in der Nähe der Backstube. Ihr könnt Euch vorstellen, dass die Priorin in Aufruhr ist.«
Entsetzt starrte Elysa den Kanonikus an. »Es wäre mir lieber, Ihr würdet mich zum Kloster Rupertsberg bringen und Eure Botschaft am nächsten Tag zustellen.«
»Ausgeschlossen. Man würde eine Verbindung zum Rupertsberg herstellen, was gerade jetzt, wo man die Heiligsprechung Hildegards anstrebt, verheerende Folgen haben könnte. Nein! Wenn wir in Eibingen nächtigen, tun wir es als Gäste, die nach einer beschwerlichen Reise Unterkunft suchen, nicht als Botschafter des Erzbischofs.«
»Und wie wollt Ihr für meine Sicherheit garantieren? Weiß mein Bruder von
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