Cryer's Cross
1
Als Tiffany Quinn verschwindet, wird alles anders.
Von den 212 Einwohnern von Cryer’s Cross, Montana, helfen 178 Sheriff Greenwood bei der tagelangen Suche, immer von Sonnenauf- bis nach Sonnenuntergang. Die Schule ist geschlossen, alle Schüler sind unterwegs und suchen auf Straßen und Farmen, laufen über Pferde- und Rinderweiden, über frisch gesetzte Kartoffeln, durch Roggen- und Weizenfelder. Sie gehen bis zu den Hügeln und entlang des Waldes wieder zurück. Sie gehen in Zweier- oder Dreiergruppen, manche nervös, manche weinend, andere entschlossen. Ab und zu rufen sie anderen Gruppen etwas zu, damit nicht noch jemand verloren geht – Handys nutzen hier draußen nicht viel, Cryer’s Cross liegt in einem Funkloch.
Nach fünf Tagen gibt es immer noch keine Spur von Tiffany Quinn. Unglaublich, aber sie ist einfach verschwunden. Unglaublich, weil es einfach lächerlich ist, zu denken, dass in dem kleinen Städtchen Cryer’s Cross ein Verbrechen geschehen könnte. Und dass dieser nette kleine Bücherwurm aus der neunten Klasse einfach so davonläuft, ganz allein … das ist einfach unmöglich.
Aber sie ist weg.
Doch die Suche geht weiter.
Kendall Fletcher zuckt zusammen und sieht sich aus Gewohnheit regelmäßig um. Das Verschwinden des jüngeren Mädchens macht ihr Angst, klar, es beunruhigt sie jedoch auch, dass ihr Stundenplan so durcheinandergebracht wird. Die letzte Woche ihres Junior-Jahres ist ausgefallen, dadurch ist alles irgendwie unvollendet und offen geblieben. Ihr ganzer Tagesrhythmus ist aus dem Takt geraten.
Sie läuft viele hundert Hektar des Landes ihrer Eltern ab und sucht dann im Wald weiter. Zwischen Kartoffeln, Kornfeldern und Bäumen zählt sie sorgsam ihre Schritte. Immer, immer zählt sie irgendetwas.
Neben ihr geht ihr bester Freund Nico Cruz.
Ihr fester Freund, würde er sagen.
Doch ein fester Freund bedeutet Verpflichtungen, und Verpflichtungen, die sie nicht einhalten kann, machen Kendall nervös.
»Komm«, sagt sie, »lass uns laufen!«
Sie sprintet über das Feld, und Nico rennt ihr hinterher. Sie kommen an einem provisorischen Fußballfeld vorbei, das inmitten der Felder liegt, und rufen gelegentlich: »Tiffany!« Als sie die Grenze zum Grundstück von Nicos Familie überqueren, bemerken sie auf einmal einen großen braunen Klumpen zwischen der ungepflasterten Straße und dem Haferfeld. Doch es ist nicht Tiffany. Es ist nur ein überfahrenes Reh.
Sie ist nicht dort. Sie ist nirgendwo.
Da es anfängt zu regnen, machen sie eine Pause unter einem Baum am Rand der Farm. Kendall zählt die Tropfen, die in immer schnellerer Folge auf den grauen Boden fallen.
Nico redet, doch Kendall hört nicht zu. Sie muss erst bis hundert zählen, bevor sie aufhören kann.
Irgendwann wird die Suche abgebrochen. Jetzt kann man vor Ort nichts mehr tun, es müssen Profis kommen. Es ist Hauptpflanzzeit. Sowohl die Farmer als auch die Schüler haben ihre Verpflichtungen. Und manche auch zusätzliche Jobs, wenn sie in der Stadt oder für einen der Bauern oder Farmer arbeiten. Das Leben muss weitergehen.
Für Kendall ist es ein langer, heißer Sommer voller harter Arbeit. Für alle ist es das.
Nach ein oder zwei Monaten hört man auf, über Tiffany Quinn zu sprechen.
2
Als die Schule im September wieder anfängt, kommt Kendall wie immer als Erste in der Highschool an, die nur aus einem einzigen Raum besteht. Bloß der alte Mr Greenwood, der Teilzeithausmeister, der sich in sein Versteck im Keller zurückzieht, wenn die Schüler kommen, ist vor ihr da.
Kendall ist braun gebrannt und nicht gerade außerordentlich groß. Sportlich. In ihren langen braunen Haaren glänzen natürliche helle Strähnen, weil sie den ganzen Sommer lang Traktor gefahren ist und auf der Farm gearbeitet hat.
Dort oben auf dem Traktor hatte sie zu viel Zeit zum Nachdenken, denn er braucht nur ein GPS-Signal, damit er die Reihen entlangfährt. Und wenn der Rundenzähler kaputt ist und das Gehirn gestört, dann wirbeln darin immer dieselben Gedanken in einer Endlosschleife herum. Tiffany Quinn. Tiffany Quinn. Tiffany Quinn.
Kendall stellt sich alle möglichen Szenarien für Tiffany vor. Weggelaufen. Verlaufen. Entführung. Vielleicht sogar Vergewaltigung und Mord. Sie fragt sich, was wirklich passiert ist und ob sie je die Wahrheit erfahren werden. Sie stellt sich vor, dass das alles ihr selbst passiert, und muss bei dem Gedanken fast weinen. Sie stellt sich vor, wie Tiffany schreit und um ihr Leben fleht
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