Pergamentum – Im Banne der Prophetin: Roman (German Edition)
E s war kurz vor Beginn der Komplet, als Otilie von Hagenau ein zaghaftes Klopfen an der Klosterpforte vernahm. Zunächst dachte sie, es sei der heftige Wind gewesen, der das Geräusch umherwirbelnder Gegenstände an ihr Ohr trug, aber als das Pochen erneut erklang, erhob sie sich von ihrem Platz im Torhaus, nahm die Fackel vom Halter und schob den Riegel beiseite.
Später dachte sie, es wäre besser gewesen, das Klopfen zu überhören, vielleicht wäre dann auch das Böse vor den Toren geblieben. In diesem Augenblick aber, da sie noch nicht wusste, was sie in der Dämmerung der anbrechenden Nacht erwartete, machte sie sich daran, die schwere Pforte zu öffnen.
Ein alter Mann stand vor ihr, regungslos. Seine Kleidung entsprach der eines Benediktinermönches, abgerissen zwar, aber, soweit im Licht der Fackel zu erkennen, nicht besudelt, obgleich ihm ein eigentümlicher Geruch anhing. Unter der weit ins Gesicht gezogenen wollenen Kukulle blitzte schlohweißes Haar hervor und wehte im immer stärker werdenden Wind.
»Was kann ich für Euch tun, ehrwürdiger Bruder?«, fragte Otilie, doch sie erhielt keine Antwort.
Warum verbirgt er sein Gesicht? dachte sie und starrte in die Schwärze der Kapuze. Besaß er die Male der Aussätzigen?
Einer plötzlichen Eingebung nach hätte sie die Pforte lieber wieder geschlossen. Aber es entsprach nicht der erforderlichenGastfreundschaft. Fremde sollten aufgenommen werden wie Christus, und man erwies ihnen die angemessene Ehre, besonders den Brüdern im Glauben.
Ich muss ihn melden, beschloss Otilie, die Priorin selbst wird sich des Mönches annehmen und dann über seinen Verbleib entscheiden.
»Wie heißt Ihr?«
Der Mönch gab kehlige Laute von sich, kurz und fremd. Otilie glaubte, die Worte Korzinthio zu verstehen und Diuveliz . Dann verstummte der Alte.
Pilger aus dem Norden sprachen ähnlich, ja, eines der Worte klang wie Düwel – Teufel.
Otilie hielt die Fackel in die Dunkelheit, um das Gesicht des Mannes zu erkennen, und noch im selben Moment schien es ihr, als fahre der Schreck wie Eisenstangen durch ihre Glieder, und sie erstarrte.
Unter der Kukulle erblickte sie eine Fratze, eine Kreatur des Teufels. Der Ausdruck war schmerzhaft verzerrt, die blasse, durchscheinende Haut straff über spitze Wangenknochen gespannt. Die Augen des Mönches lagen tief in ihren Höhlen, nackt, ohne Wimpern und Brauen. Sie waren blassblau, ja, fast milchig, und flatterten unruhig, unfähig, einen festen Punkt zu fixieren.
»Jesu Domine noster!« Hastig zeichnete Otilie mit der rechten Hand das Kreuz. Und während sie noch nachsann, was zu tun war, schob sich der Alte mit einer überraschenden Schnelligkeit an ihr vorbei in den Klosterhof und hielt dann inne, als müsse er sich orientieren.
»Wartet! Ihr dürft nicht ohne Zustimmung passieren«, rief sie aus und hielt ihn am Arm. Der Arm war dürr, wie der Zweig eines morschen Baumes. Otilie zuckte zurück, aus Angst, er könne zerbrechen.
Der Mönch ignorierte ihre Aufforderung. Er starrte zur Klosterkirche und beobachtete die Nonnen, die von allen Seiten herbeiströmten, um in der Kirche die Komplet zu beginnen. Plötzlich kam Bewegung in ihn. Mit schnellem, gleichwohl stolperndem Gang bewegte er sich in Richtung des Westportals.
»Halt, wartet, Bruder!«
Einige der Nonnen erstarrten, verfolgten den Mönch mit ängstlichen Blicken, als er auf das Kirchenportal zustürzte. Der Wind zerrte an seiner Kapuze, blähte sie unwillkürlich auf, die weißen Haare umflatterten den Saum. Dann, als er fast das Portal der Abteikirche erreicht hatte, rutschte die Kapuze ihm vom Kopf. Die Nonnen in seiner Nähe schrien bei seinem Anblick auf, eine von ihnen sank zu Boden.
»Der Teufel!«, rief die Nonne und bekreuzigte ihre Brust. »Der Antichrist ist gekommen, um uns alle zu holen.«
»Das ist nicht der Antichrist, du dummes Ding, das ist Adalbert vom Kloster Zwiefalten!«, erwiderte Schwester Margarete, eine der älteren Nonnen. Sie sah dem Alten in das entstellte Gesicht. »Ja, das ist Adalbert«, murmelte sie. »Bei Gott, was ist ihm zugestoßen!«
Behutsam nahm sie den Mönch am Arm. Er folgte ihr ohne jeden Widerstand. Margarete führte ihn nicht in den Gästetrakt, sondern am Kreuzgang vorbei in die Krankenstube, die direkt unter dem Dormitorium lag.
Als Margarete am nächsten Morgen noch vor der Laudes nach dem alten Mönch sah, war sein Krankenlager leer, die Strohmatte unbenutzt. Neben dem Lager lag ein lederner Beutel, den er bei
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