Perlentod
tun und lassen zu können, was sie wollte. Gerade malte sie sich aus, wie sie als junge, attraktive Frau durch ein Möbelhaus streifte, auf der Suche nach Geschirr und anderen Einrichtungsgegenständen für ihre erste Wohnung, als Herzer sie unsanft aus ihren Tagträumen riss: »Dazu kann uns sicher Frau von und zu etwas sagen«, brüllte er ihr direkt ins Ohr. »Und weil Madam Herzog sicher keinen Schimmer hat, zu welchem Thema sie sich äußern soll, schlage ich vor, dass eine Mitschülerin es ihr verrät!«
Sofort meldete sich die größte Streberin der Klasse und wiederholte Herzers Auftrag: »Herr Herzer hat uns gebeten, ein Beispiel für Situationen im Leben zu nennen, in denen das Verschweigen einer Sache besser ist, als die Wahrheit zu sagen.« Fieberhaft überlegte Senta, was ihr dazu einfiel. Nach ein paar ewig langen, peinlichen Momenten der Stille kam ihr die Geschichte ihrer Urgroßeltern in den Kopf. Erleichtert begann sie zu erzählen: »Mein Uropa war lange Zeit in Kriegsgefangenschaft und hat dort eine andere Frau kennen und lieben gelernt. Als er aus der Gefangenschaft freikam, machte er sich auf den Heimweg, um sich von seiner ersten Frau zu trennen. Seiner neuen Liebe versprach er, so schnell wie möglich zurückzukehren. Aber zu Hause wartete nicht nur seine Ehefrau. Als er den Hof betrat, kamen ihm zwei dreijährige Jungen – Zwillinge – entgegen. Und die Kinder sahen nicht nur einander zum Verwechseln ähnlich. Für meinen Urgroßvater war es, als ob er sich selbst dort in doppelter Ausführung herumlaufen sähe. Und in diesem Augenblick wusste er, dass er nie wieder zu seiner großen Liebe zurückkehren würde. Er hat für den Rest seines Lebens nie wieder sein Heimatdorf verlassen. Und er hat meiner Uroma nie von der anderen Frau erzählt. Erst auf dem Sterbebett hat er sein Geheimnis den Söhnen anvertraut, die ihm versprechen mussten, es niemals ihrer Mutter zu verraten«, endete Senta. Das folgende Schweigen im Klassenraum und Herzers zuckendes Gesicht schienen ihr nur verständlich. Sie selbst überkam immer noch eine Gänsehaut, wenn sie sich bewusst machte, mit welchem Geheimnis die Familie so lange gelebt hatte. Aber Herzer? So viel Mitgefühl hatte sie dem »Mister Herzlos«, wie man ihn in Schülerkreisen auch nannte, weil er schon so manchen Wackelkandidaten gnadenlos hatte durchfallen lassen, gar nicht zugetraut. Noch immer herrschte gespanntes Schweigen und das Zucken in Herzers Gesicht hörte nicht auf. Senta räusperte sich und fragte besorgt: »Herr Herzer, ist ihnen nicht gut? Soll ich das Fenster öffnen?«
Es war, als hätten alle nur auf ihre Frage gewartet. Plötzlich brach die ganze Klasse in Gelächter aus. Senta saß wie versteinert auf ihrem Platz. Mit einem Mal fiel ihr wieder ein, was schulbekannt war. Dass Herzers Frau ihn nämlich vor einem Jahr rausgeschmissen hatte, weil er eine blutjunge Lehrerkollegin geschwängert hatte. Schlimmer noch. Vor einem Jahr war er Vater von Zwillingen geworden. Für die Mitschüler, und auch für Herzer, musste Sentas Geschichte wie eine Verhöhnung geklungen haben. Während es in der Klasse immer lauter wurde, schnappte sich Herzer mit hochrotem Kopf seine Tasche und stürmte aus dem Raum. Senta wurde ganz blass. Ihre Mitschüler hingegen schienen begeistert. Von allen Seiten bekundeten sie ihren Respekt. Noch nie hatte es jemand geschafft, Herzer so aus der Fassung zu bringen. Clemens klopfte ihr anerkennend auf die Schulter und sogar Miriam kam auf sie zu.
»Echt coole Aktion. Hätte ich dir gar nicht zugetraut!« Ungläubig starrte Senta sie an. Hatte Miriam gerade tatsächlich mit ihr geredet? Ja und sie bot ihr sogar an, die Mittagspause mit bei ihr zu Hause zu verbringen. Kim, Lolle und Rita kämen auch mit und sie würden sich Pizza bringen lassen.
Überrumpelt stimmte Senta zu. Bisher hatten die vier Mitschülerinnen sie nur dann beachtet, wenn ihr irgendein Missgeschick passiert war. Wie vor ein paar Wochen im Schwimmunterricht, als sie ausgerutscht und mit einem schmerzhaften Bauchplatscher im Becken gelandet war. Das kreischende Gelächter der Clique hatte ihr noch Tage später in den Ohren gegellt. Entsprechend skeptisch war sie jetzt. Sollte sie sich über die Einladung freuen? Vielleicht führten die vier etwas gegen sie im Schilde und sie tappte gerade vertrauensselig in ihre Falle?
Als die letzte Schulstunde vor der Mittagspause begann, war sich Senta immer noch nicht sicher, ob sie dem Angebot zustimmen
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