Perry Rhodan Neo 6: Die dunklen Zwillinge (German Edition)
nicht wahr? Ich bin ein Fremder. Du weißt nicht, wie ich ticke. Und mein Gesicht ... es ist furchtbar, nicht?«
»Ihre Visage ist mir gleich!«
Monterny schwieg, horchte in sich hinein. Dieser Junge besaß die Gabe. Er spürte es. Er konnte sie aus ihm herauskitzeln. Aber nicht mit Bitten, sondern auf die Art, die der Junge kannte.
»Sie schlagen dich hier«, sagte Monterny und sah zu dem Stock, der am Schreibtisch lehnte.
Die Farbe wich aus dem Gesicht des Jungen. »Sie versuchen es!«
»Ach ja?« Monterny stand auf, nahm den Stock in eine Hand. »Wieso versuchen? Willst du mir etwa sagen, dass du stärker bist als die Erwachsenen?«
»Bleiben Sie weg von mir!«
»Wieso? Du bist ungezogen.« Er machte einen Schritt auf den Jungen zu.
»Bleiben Sie weg von mir! Oder ich ...«
»Oder was?« Monterny hielt nicht an.
Der Junge grunzte. Im nächsten Moment wurde Monterny der Stock aus der Hand gerissen. Er rammte gegen die Wand. Putz rieselte zu Boden.
Clifford Monterny war nicht umsonst gekommen.
»Du besitzt die Gabe«, flüsterte er. Monterny ging in die Knie, um auf Augenhöhe mit dem Jungen zu sein, und konzentrierte sich auf seine eigene Gabe. »Du gehörst nicht hierher, Roster. Bitte, komm mit mir!«
Der Junge war von der Aufbietung seiner Kräfte erschöpft. Er hatte dem mentalen Ansturm Monternys nichts entgegenzusetzen.
Er nickte langsam, die Pupillen geweitet.
Monterny ging an ihm vorbei hinaus auf den Gang, wo der Leiter wartete. »Ich nehme den Jungen.« Er gab dem Schwarzen einen mit Scheinen gefüllten Umschlag.
Auf den fragenden Blick seines Gegenübers entgegnete er: »Eine kleine Entschädigung für Ihre Bereitschaft, nicht auf überzogene Bürokratie zu bestehen.«
Sieben Stunden später landete der Learjet auf einem Rollfeld in der Nähe von San Fernando im Norden Mexikos. Roster Deegan schlief die meiste Zeit. Er folgte Monterny wie ein gelehriger Hund, als er ihn weckte.
Monterny war bester Dinge. Roster Deegans Gabe war so stark ausgeprägt wie bei keinem anderen Kind, das sie bisher nach Camp Specter gebracht hatten. Ivanhoe würde erfreut sein.
Am Rollfeld wurden sie erwartet. Enttäuscht stellte er fest, dass es nicht Ivanhoe war.
Einen Augenblick später machte Monternys Herz einen Satz.
Es war Julie Ledge.
Julie hatte an alles gedacht: Decke, Getränke, Essen und einen Sonnenschirm, den sie aufklappte und schräg auf den Boden legte.
Sie waren eine Stunde aufgestiegen und befanden sich nun hoch über Camp Specter auf einem Felsvorsprung, der wie ein Balkon wirkte.
Der perfekte Ort für ein Picknick.
Clifford Monterny wollte an keinem anderen Ort sein, zu keiner anderen Zeit, mit keinem anderen Menschen.
»Ein Bier?«, fragte Julie.
Er nickte. Sie reichte ihm eine gekühlte Dose. Er öffnete sie, genoss die Würze des Getränks, während er ihr zusah, wie sie das Picknick arrangierte.
Julie tat es auf ihre Art: gewissenhaft, ohne penibel zu sein.
Aus dem Tal hallten die Rufe von Kindern. Es war Sonntag. Die Kinder tollten auf dem großen Platz des Camps herum, spielten Fußball oder andere Spiele.
Als wären sie gewöhnliche Kinder. Als handelte es sich bei Camp Specter um eine gewöhnliche Schule. Als wäre ihr Zuhause nicht von einem Stacheldrahtzaun umgeben, patrouillierten nicht Tag und Nacht Wachen seine Grenzen.
»Schön zu hören, dass sie trotz allem Kinder sind, nicht?«, sagte Julie.
Er nickte.
»Und noch schöner, diesen Augenblick mit dir zu teilen.« Sie schmiegte sich an ihn.
Er legte den Arm um sie, spürte den sanften Schlag ihres Herzens, ihre bedingungslose Hingabe. Sie vertraute ihm.
Clifford Monterny hatte geglaubt, er würde Julie niemals wiedersehen.
Er hatte geglaubt, dass eine Frau wie sie für einen entstellten Krüppel wie ihn unerreichbar wäre.
Er hatte sich geirrt. Wie mit so vielen Dingen.
Zugegeben, es war eine andere Julie, die er in den Armen hielt. Julie war gealtert. Sie war nicht mehr die junge Frau, die als Cheerleader hätte durchgehen können. Erste graue Strähnen schimmerten aus dem schwarzen Haar hervor. Um die Augenwinkel hatten sich kleine Fältchen gegraben. Julie hatte zwei schlechte Ehen, drei Fehlgeburten, einen Verkehrsunfall und mehrere Karriereknicks hinter sich. Unter anderem. Mit anderen Worten: Das Leben hatte sie gebeutelt.
Monterny machte es nichts aus. Im Gegenteil: Das Leid, das ihr widerfahren war, zog ihn nur noch mehr zu ihr.
Julie machte sich los, teilte das Essen auf. Eine Melone,
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