Novemberschnee
1.
Ich hab sogar mal Blockflöte gespielt. Acht war ich da oder neun. Mit meiner Freundin Melanie bin ich in die Musikschule gegangen, jeden Donnerstag von vier bis fünf hatten wir Unterricht. Hat Spaß gemacht, ich hab keine Stunde verpasst. Dann verlor mein Vater seine Arbeit. Das Walzwerk war an einen Konzern verkauft worden, aus den Niederlanden, glaube ich. Obwohl ich tagelang heulte, strichen meine Eltern erst mal das Geld für den Blockflötenunterricht.
Unsere Lehrerin in der Musikschule hieß Lüdeking, Maria Lüdeking. Dick war sie, Mann, die brauchte zwei Stühle, wenn sie sich hinsetzen wollte. Spielten meine Freundin und ich ein Lied ohne Fehler, gab’s für jeden einen Riegel Schokolade. Die hatte immer klebrige Finger, die Frau Lüdeking, es war kein Vergnügen, ihr die Hand zu geben. Ein paar Monate hab ich noch weitergespielt, ohne Unterricht und ohne Melanie. Aber allein ist nichts für mich, ich hab immer wen um mich rum gebraucht. Also hab ich aufgehört. Die Flöte müsste eigentlich noch in meinem Zimmer liegen.
Was das alles mit den Dingen zu tun hat, die Sie von mir wissen wollen, fragen Sie? Irgendwie muss ich ja anfangen. Außerdem dürfen Sie ruhig wissen, dass ich mal ein richtig braves Mädchen war. Ein Mädchen, das Barbiepuppen mochte. Und Pferde. Und eben Blockflöte spielen. Das erst später mit Karate angefangen hat. Weil ich es hasste, wenn mir jemand auf der Straße blöd kam. Das hat dann wohl doch wieder was mit der Geschichte zu tun, die ich Ihnen erzählen soll. Finden Sie nicht?
Wir wollten das nicht, ehrlich, das müssen Sie mir einfach glauben. Für Jurij und mich gilt das hundertprozentig. Bei Tom bin ich mir nach allem, was passiert ist, inzwischen nicht mehr so sicher. Obwohl – wenn er geahnt hätte, was aus unserem Spiel wird, hätte er es nicht so weit kommen lassen, ganz bestimmt nicht.
Sie kennen doch sicher den alten Steinbruch hinterm Sägewerk. Da hat sich letztes Frühjahr der kleine Junge beim Klettern das Genick gebrochen. Martin hieß er oder Marvin, erinnern Sie sich? Stand damals in allen Zeitungen. In der Hütte neben der Steilwand haben wir uns getroffen, Tom, Jurij und ich. Irgendwann hatten wir die Bretterbude entdeckt und festgestellt, dass das Vorhängeschloss an der Tür kaputt war. Jemand musste es mit einem Brecheisen aufgestemmt haben. Drinnen fanden wir jede Menge leere Bierflaschen, Zigarettenkippen und verschimmelte Essensreste. Die Luft war so verpestet, dass einem glatt der Atem wegblieb. Wir schafften den Müll zum nächsten Container und brachten den Raum wieder in Ordnung. Zwei Tage brauchten wir, um alles sauber zu machen. Meine Mutter hätte mich sehen sollen.
Dann kauften wir ein neues Schloss. Das stabilste, das wir finden konnten. War ganz schön teuer, das Ding. Außerdem verrammelten wir das Fenster neben der Tür mit Eichenbohlen, die wir hinter der Hütte entdeckt hatten. Wer auch immer vor uns in der Bude gelebt hatte – er tauchte nicht mehr auf.
Von da an gehörte die Hütte uns. Wir fragten niemanden um Erlaubnis, wir hätten sowieso nicht gewusst, wen. Wir besserten das undichte Dach aus, legten alte Matratzen in den einzigen Raum und stellten drei Sessel rein, die wir auf dem Sperrmüll gefunden hatten. Tagelang sprayte Jurij Graffiti auf die Wände, Monster und solches Zeug. Er konnte das, er war ein richtiger Künstler.
Hinterher stank es derartig nach Farbe, dass wir alle drei Kopfschmerzen kriegten. Jedenfalls sah die Bude besser aus als mein Zimmer zu Hause. Hätten wir noch einen Ofen gehabt, wäre es perfekt gewesen. Doch so froren wir, sobald es draußen auch nur ein bisschen kälter wurde.
Sie fragen sich bestimmt, wie das funktioniert haben soll, zwei Jungen und ein Mädchen. Das kennt man doch, werden Sie sagen, diese Geschichten gehen nie gut aus. Eine Weile klappt es, zumindest sieht es so aus. Aber dann dreht einer von den dreien vor lauter Eifersucht durch. Und dann knallt’s eben. Ende der Vorstellung.
Bei uns hat es geklappt, fast ein Jahr lang. Niemand hat es verstanden, meine Eltern schon gar nicht. Ich hab aber auch gar nicht versucht es ihnen zu erklären. Hätte sowieso keinen Zweck gehabt. Bei Jungs sind sie komisch.
Mit Jurij bin ich zuerst gegangen. »Der Russe« nannten sie ihn bei uns in der Schule, dabei stammte er aus Kasachstan. Ihm machten die Sprüche nichts aus – wenigstens behauptete er das. Ich war nicht richtig verliebt in ihn, kann sein, ich war zu jung dafür.
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