Pestmond (German Edition)
sie.
Abu Dun wechselte in seine Muttersprache. »So, wie es aussieht, treiben sich die Venezianer lieber auf der Pestmond als ihrem eigenen Schiff herum. Warum warten wir nicht, bis es dunkel ist, schleichen uns an Bord und befreien Ayla?«
Tatsächlich hatte Andrej diesen Gedanken auch schon erwogen – und ihn genauso schnell wieder verworfen, wie er ihm gekommen war. Sie konnten Hasan nicht im Stich lassen, denn das würde Abu Duns sicheren Tod bedeuten. Und selbst wenn nicht, dann hätten sie rein gar nichts gewonnen, denn diese Männer würden nicht einfach bedauernd die Köpfe schütteln und zur Tagesordnung übergehen. Sie würden sie gnadenlos jagen. Andrej schüttelte den Kopf.
»Und was hast du vor?«, fragte Abu Dun. »Blindlings drauflosstürmen und dich umbringen lassen?« Er beantwortete seine eigene Frage mit einem Kopfschütteln. »Das ist keine gute Idee, Hexenmeister.«
»Hast du eine bessere?«
»Von hier zu verschwinden«, sagte Abu Dun noch einmal und schnitt Andrejs Protest mit einer rüden Handbewegung ab, noch bevor er ihn überhaupt vorbringen konnte. »Die Kerle halten uns für tot. Diesen Vorteil sollten wir nutzen, um die Karten neu zu mischen. Wir schleichen uns auf das Schiff und warten, bis es in See gestochen ist, dann befreien wir Ali und seine Männer.«
Diese Idee war beinahe noch schlechter als die erste, fand Andrej. Aber sie zeigte auch, dass Abu Dun im Grunde genauso ratlos war wie er. Und das wiederum machte ihn wütend – so wütend, dass er sich beherrschen musste, um seine üble Laune nicht an Abu Dun oder dem unglückseligen Geistlichen auszulassen. Verdammt, er hatte nicht die Qualen der letzten Wochen auf sich genommen, nahezu alle seinen Prinzipien gebrochen und seine Seele verkauft, um jetzt einfach aufzugeben! Er würde Abu Dun retten, koste es, was es wolle. Und er würde auch Ayla um jeden Preis beschützen und nicht zulassen, dass ihr noch mehr Leid angetan wurde!
Und was, flüsterte eine leise Stimme hinter seiner Stirn, wenn er sich für einen von beiden entscheiden musste?
Andrej schob den Gedanken erschrocken von sich und schüttelte den Kopf. Neben ihm fuhr Vater Lucio so heftig zusammen, dass Abu Duns Hand ganz instinktiv auf den Schwertgriff sank. »Lucio?«, fragte er erschrocken.
Er bekam keine Antwort. Der Priester bot einen schon fast komischen Anblick, wie er wie mitten in der Bewegung erstarrt dastand und irgendetwas hinter Andrej fixierte. Er legte ebenfalls die Hand auf den Schwertgriff und sah in dieselbe Richtung. Doch Andrej konnte zunächst nichts Außergewöhnliches entdecken – zumindest nichts, gegen das er seine Waffe hätte zücken müssen. Zwei weitere Gestalten traten aus einer der kleinen Hütten ins Freie. Einen der Männer kannte er nicht, das Gesicht des zweiten Mannes war ihm dafür umso vertrauter. Er trug denselben schmucklosen schwarzen Mantel wie Ali und seine Assassinen, hatte die Kapuze aber zurückgeschlagen, sodass man sein schütteres weißes Haar und den sorgsam gestutzten gleichfarbigen Bart erkennen konnte.
Hinter ihm sog Vater Lucio die Luft zwischen den Zähnen ein und verfolgte die Szene mit allen unübersehbaren Anzeichen von Entsetzen.
»Aber das … das ist doch …«, stammelte er.
»Vater?«, fragte Andrej.
Lucio hörte ihn nicht einmal, sondern starrte Hasan und den anderen weiter aus Augen an, die vor Entsetzen und Unglauben schier aus den Höhlen zu quellen schienen. »Aber das … das kann doch gar nicht …«
Er brachte auch diesen Satz nicht zu Ende, sondern sog nur noch einmal die Luft ein und schlug hektisch das Kreuzzeichen. Er versuchte loszustürmen, doch Abu Dun hielt ihn mit einer beiläufigen Geste zurück und schüttelte den Kopf.
»Was habt Ihr, Vater?«, fragte Andrej.
»Dieser Mann«, stammelte Lucio. »Ist das … gehört ihr zu ihm?«
»Wir gehören zu niemandem«, brummte Abu Dun.
Andrej warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Hasan?« Ganz wie er es erwartete, bekam er keine Antwort. »Kennst du ihn?«
»Ja. Nein. Ich bin … aber das ist … unmöglich.« Lucio versuchte abermals sich loszureißen und wurde von Abu Dun jetzt mit deutlich mehr Nachdruck zurückgehalten.
»Ich muss ihn sehen!«, protestierte er um einiges lauter, als es Andrej lieb war. »Ich muss näher ran! Ich muss mich überzeugen!«
Abu Dun seufzte sehr tief, und da Andrej ihn kannte und eine ziemlich konkrete Vorstellung davon hatte, was als Nächstes kommen würde, ergriff er Lucio seinerseits am
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