Pestmond (German Edition)
hatte er nicht geglaubt, dass der Begriff aufgeben überhaupt zu ihrem Wortschatz gehörte.
Wen er bisher noch nicht gesehen hatte, war Hasan. Natürlich musste das nichts bedeuten. Das Dorf war klein, von ihrer Position hinter dem Schuppen aber trotzdem noch nicht einmal zur Hälfte zu überblicken. Wahrscheinlich hatten sie ihn in eines der Häuser gebracht, versuchte Andrej sich selbst zu beruhigen. Oder schon zurück aufs Schiff.
»Wo könnte er sein?«, wandte sich Abu Dun an Vater Lucio, der vor einigen Minuten zurückgekommen war und seitdem kein einziges Wort gesprochen hatte, sondern sie nur mit wachsender Beunruhigung ansah.
»Euren … Freund?«
Das wäre gewiss nicht das Wort gewesen, das Abu Dun im Zusammenhang mit dem Alten vom Berge eingefallen wäre, aber er nickte trotzdem und bekam ganz wie erwartet nur ein hilfloses Schulterzucken zur Antwort. »Wahrscheinlich in eines der Häuser.«
»Oder dort drüben?« Abu Dun machte eine Kopfbewegung auf den zweiten Schuppen, doch Lucio schüttelte nur den Kopf. »Dort drinnen ist kein Platz. Sie bewahren dort … etwas anderes auf.«
Allein sein Tonfall machte Andrej so neugierig, dass ihm das Innere des lang gestreckten Schuppens unter anderen Umständen eine gründliche Untersuchung wert gewesen wäre. Aber jetzt ging es darum, Hasan zu finden und Ayla zu retten, und da verbot sich jede Ablenkung. Das Gebäude, hinter dem sie sich verborgen hielten, hatte Abu Dun bereits mit einem Blick durch jedes der schmalen Fenster auf der Rückseite inspiziert. Kein Hasan.
»Wir können nicht jedes einzelne Haus durchsuchen«, sagte Lucio nervös. »Ihr seid zu auffällig. Don Corleanis’ Männer würden euch sofort erkennen und Alarm schlagen.«
Andrej sah Abu Dun an, dass er mit dieser Bemerkung genauso wenig anfangen konnte wie er selbst, aber er schüttelte nur so heftig den Kopf, dass sein Turban wackelte und sagte betont: »Wir durchsuchen gar nichts, Vater. Andrej und ich werden …«
»Ihr könnt nicht gehen!«, unterbrach ihn Lucio erschrocken. »Bist du verrückt? Ganz Corleanis wimmelt von Soldaten! Wir müssen hier warten!«
»Ach ja?«, fragte Abu Dun. »Wie lange?«
Und als wären diese Worte das Stichwort gewesen, traten in diesem Moment zwei weitere Gestalten in sein Blickfeld. Beide waren ihm nicht unbekannt, auch wenn ihm von dem Mann in der Kapitänsuniform im Grunde nur die Stimme vertraut war. Umso besser erinnerte er sich an den anderen, und Andrej hoffte, dass er sein Gesicht ein wenig mehr unter Kontrolle hatte als Abu Dun, der bei Don Corleanis’ Anblick ein zorniges Knurren ausstieß.
»So viel zum Thema Ganovenehre«, sagte Andrej grimmig. »Anscheinend existiert doch immer jemand, der besser bezahlt. Es gibt keine Ehrlichkeit mehr unter Verbrechern.«
Es bekam keine Antwort, und da es für Abu Dun zumindest ungewöhnlich war, auf ein solches Stichwort zu verzichten, wandte er sich um und erlebte eine Überraschung: Zwar sah der Nubier Don Corleanis und die Soldaten mit unverhohlener Wut an und hatte die eiserne Hand mit solcher Kraft um den Schwertgriff geschlossen, dass man fast um die Waffe fürchten musste, doch war es Vater Lucio, dessen Reaktion ihn überraschte. Er hatte nicht erwartet, dass der Geistliche erfreut auf den Anblick des Schmugglerkönigs reagieren würde, aber was er in Lucios Gesicht las, das war …
Nein, es gelang ihm nicht, den Ausdruck genau zu definieren. Doch er gefiel ihm nicht, wenn er auch nicht genau wusste, warum.
»Wir müssen etwas unternehmen«, sagte er entschlossen. »Wir müssen Hasan …«
»Befreien?«, fiel Abu Dun ihm ins Wort. Seinen Tonfall spöttisch zu nennen, wäre ihm bei Weitem nicht gerecht geworden. »Euer Zutrauen in die Fähigkeiten Eures Mohren schmeichelt mir, aber das da sind gut und gerne fünfzig Mann. Mit Musketen.«
»Und was schlägst du vor? Einfach zusehen und die Hände in den Schoß legen?«
»Corleanis’ Mörderbande noch gar nicht mitgerechnet«, fügte Abu Dun so ungerührt hinzu, als hätte er gar nichts gesagt. Andrej wollte erneut widersprechen, beließ es dann aber bei einem zornigen Blick. Abu Dun hatte ja recht. Der nubische Riese und er waren womöglich die besten Schwertkämpfer in diesem Teil der Welt, wenn nicht überhaupt, aber auch sie waren weder unbesiegbar noch unverwundbar, und was ihre vermeintliche Unsterblichkeit anging, so endete auch sie spätestens am falschen Ende eines Musketenlaufs. Es waren einfach zu viele, selbst für
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