Pestsiegel: Historischer Kriminalroman (German Edition)
dass sich noch jemand im Raum befand. Mit dem gestutzten Bart sah er aus wie ein lebensgroßes Abbild des abgenutzten Holzschnitts, den wir zusammen mit der Großen Remonstranz gedruckt hatten. Doch ich war nicht sicher, ob er wirklich echt war, bis er das Wort ergriff.
»Jetzt werden wir demnächst in seinen Skandalblättern auftauchen, Lucy«, sagte er, und dann, als ich weiterhin dastand, als hätte ich meine Zunge verschluckt: »Ihr seht aus, als hättet Ihr einen Geist gesehen.«
»Ich … ich hatte jemand anderen erwartet, Mr Pym.«
»Den König womöglich?« Er lachte dröhnend und deutete auf Lucy Hay. »Ich würde mich nicht mit ihr anlegen.«
»Eine … eine Dame namens Kate Beaumann«, stammelte ich. »Ich dachte, sie sei vielleicht hier.«
»Ich wünschte, sie wäre es«, sagte Lucy, dann zu Mr Pym: »Dies ist …«
»Ich weiß, wer er ist!« Anders als bei seinen donnernden Reden im Unterhaus, sprach er jetzt mit dem leicht undeutlichen Akzent aus Somerset, von wo er stammte. Er ergriff meine Hand. »Der Mann, der meine Prosa verstümmelt und mich aus dem House geschmuggelt hat … Thomas Neave. Oder soll ich lieber Stonehouse sagen?«
»Neave, Sir.«
»Nun gut, wir werden sehen.«
Er sah zu Lucy hinüber. Sie machte den Anhänger ab und hielt ihn vor eine Kerze. Er schüchterte mich ebenso ein wie der andere, wirkte jedoch eher schalkhaft und weniger bedrohlich. Die Elster hatte einen kleinen Haufen winziger Perlen in ihrem emaillierten Nest, vielleicht symbolisch für das Gerücht, das sie an einem Ort aufgeschnappt und zum nächsten getragen hatte, das Gerücht, das Mr Pym gerettet hatte.
Lucy Hay drückte auf einen Granat an der Seite des Nests, hielt ihn fest und drückte dann auf sein Pendant auf der anderen Seite. Instinktiv zuckte ich zurück, als die Elster auf mich zuflog. Im Inneren sah ich das Porträt eines Mannes, doch sie schloss den Deckel schnell wieder, ehe ich erkennen konnte, wer es war.
»Ach«, sagte Mr Pym. »Jetzt werden wir nie erfahren, für wen ihr Herz schlägt.«
Lucy erklärte mir, sie sei am selben Tag bei Hofe eingeführt worden wie Frances Stonehouse. Sie waren Freundinnen geworden und hatten dieselbe Art von Anhänger bei einem italienischen Juwelier bestellt. Durch Frances hatte Lucy Kate Beaumann kennengelernt, die auf dem benachbarten Landsitz lebte. Meine Geschichte hatte sie von Kate erfahren, die glaubte, Frances’ Anhänger sei verlorengegangen. Gleich nach ihrer Ankunft in Poplar hatte Matthew ihr erzählt, er habe ihn nie gesehen.
»Erst kürzlich fand Kate heraus, dass Matthew gelogen hatte«, sagte Lucy Hay.
»Weil ich es Euch erzählt habe!«, platzte ich heraus. »In der Kutsche! Ich wollte es nicht, aber …«
»Der Junge ist schlau«, sagte Mr Pym. »Ihr habt recht, wie immer, Lucy. Er könnte es schaffen.«
»Was schaffen?«, fragte ich.
Er tat meine Frage mit einer Handbewegung ab. »Lord Stonehouse hat dir befohlen, den Anhänger zu finden?«
»Ja. Er …«
»Wir wissen, dass er Euch als Erben in Betracht zieht. Auch wir haben unsere Spione. Doch Lord Stonehouse ist … wankelmütig. Und es geht ihm nicht gut. Wir können es uns nicht leisten, dass einer der beiden Söhne ihn beerbt und somit die enorme Macht und der Einfluss des Namens Stonehouse dem König zufällt!«
Jetzt stand er da, als hielte er mit seiner volltönenden Stimme eine Rede. Ich war sogar noch eingeschüchterter als durch den Anhänger. Enorme Macht und Einfluss! Narr, der ich war, hatte ich das nie bedacht. Ich war jemand, der mit den Reden durch die Stadt rannte oder sie setzte. Nicht jemand, der sie hielt. Mr Pym verstummt. Er stand direkt vor mir und bellte mich förmlich an.
»Angenommen, Ihr erbt tatsächlich. Werdet Ihr uns unterstützen?«
Meine Kehle war so trocken vor Aufregung, dass ein Augenblick verstrich, ehe ich sprechen konnte. »Ja, Mr Pym«, sagte ich. »Für Euch würde ich alles tun.«
»Gut! Sehr gut!« Er drückte meinen Arm mit der Gewissheit eines Politikers, als sei alles abgemacht, der Anhänger so gut wie gefunden und das Erbe gesichert.
»Angenommen«, sagte Lucy Hay trocken, »er ist kein Stonehouse?«
Sie verfügte über die bemerkenswerte Begabung, ihn zurück auf den Boden zu holen, doch er besaß die nicht minder bemerkenswerte Gabe, es zuzulassen. Für ihn war Politik ebenso wie Religion lediglich eine Frage des Glaubens.
»Seht ihn Euch an«, sagte er. Sie gingen beide um mich herum, betrachteten mich aus
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