Petersburger Erzählungen: Fischer Klassik PLUS (German Edition)
ihm ordentlich zu kämpfen hatte.
Plötzlich fühlte sich der »Würdenträger« am Kragen gepackt. Als er sich umwandte, erblickte er einen älteren Beamten, in dem er zu seiner Bestürzung Akakij Akakijewitsch erkannte. Das Gesicht des Beamten war leichenblaß. Der Schreck des Würdenträgers steigerte sich aber ins Grenzenlose, als der Tote den Mund, dem der kalte Hauch des Grabes entströmte, öffnete und die Worte sprach:
»Da bist du ja! Endlich hab’ ich dich beim Kragen erwischt! Deinen Mantel suche ich ja eben. Du wolltest dich nicht meines Mantels annehmen und hast mir noch obendrein eine Rüge erteilt, jetzt wirst du mir dafür den deinigen hergeben!«
Der arme »Würdenträger« war halbtot. Er, der in seiner Kanzlei vor seinen Untergebenen so energisch aufzutreten verstand, war jetzt so außer sich vor Schreck, daß er einen Ohnmachtsanfall befürchtete; so geht es übrigens in ernsten Augenblicken vielen, die sonst ein imposantes Auftreten haben. Er zog sich selbst den Mantel von seinen Schultern und schrie dem Kutscher mit wilder Stimme zu: »Rasch nach Hause!« Als der Kutscher diesen Ton hörte, der gewöhnlich von noch wirksameren Ausbrüchen begleitet war, duckte er sich und schlug wütend auf die Pferde ein. In sechs Minuten hielt der Schlitten vor dem Hause. So kam der »Würdenträger« bleich, erschrocken und seines Mantels beraubt, statt zur Karolina Iwanowna – nach Hause. Er ging sofort in sein Zimmer, wo er eine ganz schreckliche Nacht verbrachte. Am nächsten Morgen sah er so schlecht aus, daß seine Tochter ihm beim Morgengruß sagte:
»Du bist ja heute ganz blaß, Papa!«
Der Papa erwiderte aber darauf gar nichts und erzählte auch kein Wort davon, wo er die letzte Nacht gewesen war und was er noch vorgehabt hatte. Dieser Vorfall machte auf ihn einen starken Eindruck. Seine Untergebenen bekamen jetzt viel seltener die Worte: »Wie unterstehen Sie sich? Wissen Sie, mit wem Sie reden?« zu hören; wenn er diese Worte auch noch zuweilen gebrauchte, so doch erst immer nach Anhörung der Sache.
Das Merkwürdigste aber war, daß das Gespenst von jenem Tage an sich nicht mehr sehen ließ: der Mantel des »Würdenträgers« schien ihm ausgezeichnet zu passen. Wenigstens hörte man nichts mehr von neuen Manteldiebstählen. Viele Leute konnten sich aber noch immer nicht beruhigen und behaupteten, das Gespenst tauche noch immer hier und da in den entlegeneren Stadtbezirken auf. Ein Wachsoldat aus der Kolomnavorstadt hatte das Gespenst des toten Titularrats auch wirklich noch einmal gesehen. Dieser Soldat war von Natur etwas schwächlich, so daß ihn einmal ein junges Schwein, das ihm unter die Füße lief, zum größten Gaudium der Droschkenkutscher zum Fallen brachte; sie mußten ihm auch später dafür, daß sie über ihn gelacht hatten, je eine halbe Kopeke Entschädigung zahlen. Dieser Wachsoldat war also so schwach, daß er sich nicht traute, das Gespenst zu stellen. Er verfolgte es nur schweigend durch die finsteren Straßen, bis es sich umwandte und fragte: »Was willst du denn?« wobei es ihm eine so mächtige Faust zeigte, wie sie auch bei lebenden Menschen nicht oft vorkommt. Der Wachsoldat murmelte: »Gar nichts …« und machte sofort kehrt. Das Gespenst war aber viel größer gewachsen, als es Akakij Akakijewitsch bei Lebzeiten war, und hatte einen mächtigen Schnurrbart. Es schlug anscheinend die Richtung zur Obuchowschen Brücke ein und verschwand in der Nacht.
Der Newskij-Prospekt
Es gibt nichts schöneres als den Newskij-Prospekt, wenigstens in Petersburg nicht: für Petersburg bedeutet er alles. Welcher Glanz fehlt noch dieser schönsten Straße unserer Hauptstadt? Ich weiß daß keiner von den blassen und beamteten Einwohnern Petersburgs diese Straße gegen alle Kostbarkeiten der Welt eintauschen würde. Nicht nur der Fünfundzwanzigjährige, der einen wundervollen Schnurrbart und einen prachtvoll genähten Rock besitzt, sondern auch der, auf dessen Kinn weiße Stoppeln sprießen und dessen Kopf so kahl ist, wie ein silbernes Tablett, ist vom Newskij-Prospekt entzückt. Und erst die Damen! Oh, den Damen ist der Newskij-Prospekt noch angenehmer! Und wem ist er nicht angenehm? Kaum hat man den Newskij-Prospekt betreten, so atmet man nichts als müßiges Herumschlendern. Wenn man sogar ein wichtiges, unaufschiebbares Geschäft vor hat, so vergißt man es, sobald man auf dem Newskij ist. Dies ist der einzige Ort, wo die Menschen nicht von irgendeiner Notwendigkeit
Weitere Kostenlose Bücher