Pferdekuss
hat vorhin angerufen. Sie hat eine Gehirnerschütterung und einen gebrochenen Arm.«
Das Schwarz seiner Augen war ihm rot in die Augäp fel gelaufen, während die Iris von den Rändern her fast weiß geworden war.
»Und du hast wirklich nichts gewusst«, fragte ich, »nicht einmal etwas geahnt?«
Er hustete. »Siglinde hat doch immer wieder erzählt, dass Heide Hajo nachsteigt. Ein Weib, habe ich gedacht, das auf zwei Hochzeiten tanzt, braucht sich nicht wun dern, wenn einer von beiden sauer wird. Warum nicht Hajo? Ich verstehe Siglinde nicht. Wie konnte sie nur glauben, dass ich mich von einer wie Heide reinlegen lasse. Das Kind war nicht von mir.«
»Siglinde hat deinen Humor nie verstanden.«
»Man wird sagen, dass ich die Schuld trage. Man wird mich für alles verantwortlich machen. Es wird die Rede sein von Mangel an Liebe und Verständnis, von seelischer Grausamkeit. Man wird sagen, ich hätte meine Kinder für den Tod meiner Frau büßen lassen, ich hätte sie gegeneinander aufgehetzt. Wenn man sie verurteilt, wird man eigentlich mich verurteilen.«
»Ich glaube nicht«, sagte ich, »dass es zu einer Verurteilung kommt. Man wird sie in psychiatrische Behandlung überweisen, wenn du ihr einen Anwalt besorgst, der ein Gutachten in Auftrag gibt, mit dem Siglindes stark verminderte Schuldfähigkeit erklärt wird.«
»Aber sie muss doch bestraft werden, wenn sie all das getan hat, was du ihr vorgehalten hast.« Er blinzelte. »Sie hat meinen Sohn getötet. Sie hat ihn kaltblütig ermordet. Sie hat ihn mir genommen. Sie hat Todt auf dem Gewissen.«
»Siglinde hat kein Gewissen. Sie hat unseren Begriff von Schuld nicht.«
Friedrich Gallion zerbröselte innerlich, wurde kleiner in seinem Sessel.
»Siglinde weiß zwar«, sagte ich, »dass auf Mord Stra fe steht, aber sie hat nicht unsere moralische Scheu, einen Menschen zu töten, der ihren Wünschen im Weg steht. In ihrem Kopf gibt es keine Verbindung zwischen Denken und Fühlen. Darum handelt sie rein logisch. Sie hat ihren Bruder nicht geliebt. Sie konnte sich den Schmerz nicht vorstellen, den sie dir zufügt. Er bedrohte einfach nur ihr Erbe und machte ihr Leben kompliziert. Es war einfach, ihn zu beseitigen. Dabei war ihr durchaus klar, dass sie nicht herumerzählen durfte, was sie getan hatte, aber nur, weil sie gelernt hat, unsere Konventionen einzuhalten.
Sie hat unsere Sprache gelernt, hat gelernt, sich durchzusetzen in einer Welt, an deren emotionalen Aspekten sie keinen Anteil hat. Nicht, dass sie keine Gefühle hat, aber sie kann sie nicht benennen. Sie wirken nur auf ihr Zentralnervensystem, Wut zum Beispiel. Sie hat ihre Wut als Impuls zu handeln erlebt, als Erfolgsstrategie und Stärke. Aber sie hätte nicht sagen können, dass sie wütend ist. Es gibt keine Verbindung zwischen den Tei len ihres Gehirns, wo die Gefühle stattfinden, und dem, wo ihre Sprache sitzt.«
»Aber sie hat doch nach dem Sturz ganz schnell wieder sprechen gelernt. Die Ärzte haben mir versichert, es werde keine bleibenden Schäden geben.«
»Ein kindliches Gehirn ist sehr flexibel. Wird ein Teil zerstört, aktiviert es andere Teile. Siglinde ist nicht dumm. Sie ist vermutlich ähnlich intelligent, wie Todt es war, denn sie hat gelernt, sich gesellschaftskonform zu verhalten. Auch Blinde benutzen Worte wie hell oder dunkel und Rot und Blau, ohne zu wissen, was es heißt, wenn Helligkeit uns blinzeln macht und Rot uns alar miert. Auch ein Blinder sagt zum Abschied: ›Wir sehen uns‹, denn es ist ja nur eine Formel. Siglinde hat alle Formeln gelernt. Sie lächelt, sie schimpft, sie flirtet. Aber sie ist gefühlsblind.«
»Wahrscheinlich glaubst du, ich hätte es merken kön nen, wenn ich selbst nicht so gefühllos wäre.«
»Im Gegenteil. Du warst immer viel zu erregt, wenn es um deine Kinder ging. Sie sollten die Besten sein. Du hast dich über Siglinde lustig gemacht, wenn sie sich mit den Worten vertat, weil du dich über ihre Schwächen geärgert hast. Hättest du sie kalten Sinnes beobachtet, so hättest du gesehen, was auch psychologische Tests ge zeigt hätten – dass viele Begriffe für Siglinde keine Be deutung haben. Hättest du dich weniger für den Täter, deinen Sohn, interessiert und mehr für das Opfer, für deine Tochter, dann hätte man ihr schon eher helfen kön nen.«
»Mit anderen Worten: Ich bin an allem schuld.«
Er sagte es wie meine Mutter, wenn im Rückblick Kausalketten über ihr einstürzten und alle einstmals gu ten Absichten sich
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