Pferdekuss
das Telefon abgemel det. Ich war vor fünf Jahren nach meinem Unfall aus dem Kaff unter der Schwäbischen Alb nach Stuttgart geflüch tet, um dreißig Kilometer Distanz zwischen die Argumente meiner Mutter und mich zu bringen.
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Was willst du denn noch von dem alten Gallion. Dich hat er doch auch nicht gera de verwandtschaftlich behandelt.«
»Ich kann verzeihen!«
Vermutlich hatte ich nur das Wesen des christlichen Verzeihens noch nicht begriffen. Meine Mutter rächte sich durch Demut an Krankenbetten siecher Feinde, verlängerte mit Gebeten deren Agonie und dankte dann am Grab Gott für ihre unerschütterliche Gesundheit und ihr reines Gewissen. Es musste dem alten Gallion schlecht gehen, wenn sie so erpicht darauf war, ihn zu besuchen.
»Na gut. Wann soll ich kommen?«
»Wann du willst. Mein Haus steht dir immer offen, wie du weißt.«
Nur zu gut. Es stand seit fünf Jahren offen wie der Schlund eines Drachens.
Gut sechs Jahre ist auch das jetzt schon wieder her, dass ich diese Reise ins Dorf meiner Kindheit vorbereitete wie eine Weltreise. Und noch einmal trete ich diese Reise an, zurück in die Welt des ausgehenden vorigen Jahrhunderts, als die D-Mark noch Zahlungsmittel war und der Untergang der DDR noch gar nicht lang zurücklag, bevor Polen zur EU gehörte, als ich noch heim Stuttgar ter Anzeiger arbeitete, man aufgehört hatte, übers Waldster ben zu reden, und nur einige wenige Wissenschaftler die Klimakatastrophe heraufziehen sahen. Eine ganz an dere, ferne, rätselhafte Welt also.
1
Ich ordnete meine Papiere, schrieb ein Testament, in dem ich meiner Freundin Sally das Vermögen vermachte, das mir nach dem Tod Todt Gallions in Form seiner Lebensversicherung zugefallen war, ließ mich beim Stuttgarter Anzeiger wegen einer dringenden Familienangelegenheit beurlauben und dachte tagelang darüber nach, wie ich die Reisetasche packen musste. Nahm ich den Anzug mit oder das Kostüm? Sollte ich zu den Jeans noch die Reithose einpacken, mit oder ohne Stiefel, um für alle Unwetter gerüstet zu sein?
Ich rief in der Staatsanwaltschaft an und erfuhr von Sekretärin Roswita Kallweit, Herr Dr. Weber sei in der Sitzung. Dort war der Oberstaatsanwalt immer, wenn ich an Frau Kallweit geriet. Richards Autotelefon war nicht geschaltet. Blieb nur sein Anrufbeantworter und die Hoffnung, dass er rechtzeitig heimkehrte, um ihn abzuhören, sich mit mir zu treffen und beruhigend auf mich einzureden.
»Soll ich mitkommen?«, fragte er, als wir im Sa Lim ba im Gerichtsviertel bei Muscheln und Seezunge saßen.
»Bloß nicht! Meine Mutter ist praktizierende Katholikin. Sie würde uns in getrennten Zimmern unterbringen. Ich müsste auf der Couch im Wohnzimmer schlafen, auf der mein Vater gestorben ist.«
»Wir würden schon klarkommen, deine Mutter und ich«, sagte er lächelnd. Er setzte auf Anzug mit Schlips und Kragen.
Bei seinen eigenen Eltern in Balingen mochte das funktionieren, aber meine Mutter würde ihn sehen, von seinen fünfzig Jahren auf sein Einkommen schließen und mich in der Küche als Nutte beschimpfen und im Wohnzimmer das Gespräch auf das Sakrament der Ehe bringen. Dann würde sich herausstellen, dass er aus pietistischem Hause stammte und dass nicht er, sondern ich es war, die nicht heiraten wollte, nicht noch einmal. Meine letzte Ehe war vor fünf Jahren (inzwischen über zehn, manchmal sage ich jetzt auch fünfzehn Jahre, aber wer will das so genau wissen) und nach zweijähriger Dauer abrupt an einem Birnbaum zu Ende gegangen. Todt starb in den Trümmern seines Autos. Mir bescherte die berstende Windschutzscheibe ein vernarbtes Gesicht.
»Das stehe ich nicht durch.«
»Wovor hast du denn Angst? Du bist jetzt fast vier unddreißig. Was kann dir deine Mutter da noch anhaben?«
»Sie kastriert mich.«
Richard lachte. »Verwechselst du da nicht was?«
Ich verwechselte solche Dinge gern. Richard kannte das, aber meine Mutter ging immer noch davon aus, dass ich ein Mädchen war, dessen einziges Sodom und Gomorrha darin bestand, sich ohne Trauschein einem Mann hinzugeben.
»Du musst dich ja nicht gerade wie ein Hengst aufführen«, riet er. »Drei Tage wirst du das schon aushalten. Oder fürchtest du dich gar vor dem alten Gallion? Aber warum denn? Nach dem bisschen, was du mir erzählt hast, hat er dich zwar nicht gerade nett behandelt, aber du wohnst ja nicht bei ihm, und du musst dich nicht mehr mit ihm gutstellen.«
»Aber ich bin diejenige, die ihm
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