Philosophische Temperamente
seiner Kritik der politischen Ökonomie ist Nekromantik: Als Heros, der ins Totenreich hinabsteigt, um mit Wertschatten zu ringen, bleibt Marx auch für die Gegenwart auf unheimliche Weise aktuell. Das Untote, das als Geldwert unter Menschen umgeht und das als lachender Kommunikator den Lebenden Zeit und Seelen abzieht, herrscht heute schon fast ohne Vorwände über die avancierten Gesellschaften. Arbeit, Kommunikation, Kunst und Liebe gehören hier ganz den Endspielen des Geldes. Diese bilden die Substanz der aktuellen Medien- und Erlebniszeit. Weil Geld zu seiner Verwertung Zeit braucht, geht auf gespenstische Weise auch die sogenannte große Geschichte weiter. Tendenziell ist alle Geschichte Verwertungsgeschichte geworden; sie ist ein Spiel, in dem immer auf Verlängerung gespielt wird. Doch solche Geschichte ist nicht mehr das Gespräch der Lebenden mit den Toten über die Güte der Welt, sondern die immer gründlichere Durchdringung der Lebenden vom ökonomisierten Spuk. Aus der menschlichen Subjektivität unserer Zeit blickt immer unverhüllter die Geldseele hervor: Eine Gesellschaft aus gekauften Käufern und von prostituierten Prostituierenden richtet sich in globalisierten Marktverhältnissen ein. Das klassisch liberale Laissez-faire expliziert sich zum postmodernen Saugen und Saugen lassen. Telekommunikation läßt sich
von Televampyrismus immer schwerer unterscheiden. Fernseher und Fernsauger schöpfen aus einer verflüssigten Welt, die kaum noch weiß, was widerstandsfähiges oder eigenes Leben wäre. Könnte es nicht sein, daß eine Zeit bevorsteht, in der, wer von Vampyrismus nicht reden will, auch von Philosophie schweigen sollte? Träfe dies zu: es wäre in jedem Fall die Zeit von Marxens zweiter Chance.
NIETZSCHE
Den Demokraten ein Ärgernis und den Professoren eine Torheit, läßt der Name Friedrich Nietzsches noch immer die Herzen von Künstlern und Revisionisten höher schlagen. Den Grund für die Ungleichheit seiner Rezeptionsschicksale hat Nietzsches Werk selbst gelegt, indem es den einen mehr nimmt, als sie herzugeben bereit sind, und den anderen mehr gibt, als sie fürs erste nehmen können. Darum sind diese fasziniert, und jene tragen Bedenken. Hat Nietzsche nach der einen Seite hin die tradierten Weltanschauungen des sittlichen Ernstes untergraben, so hat er nach der anderen einen ästhetischen Ernst in die Welt gesetzt, den zu erfassen auch denen schwerfällt, die sich zu ihrer Rechtfertigung gern auf ihn beriefen. Freunde und Gegner Nietzsches sind sich nur darin einig, sein Werk als eine Art von Artisten-Metaphysik zu definieren; sie erkennen es an – im Guten wie im Schlimmen – als geistesgeschichtlichen Wendepunkt zur ästhetischen Weltanschauung. Was beiden Parteien schwerfällt, ist die triftige Beantwortung der Frage, wodurch die von Lob und Warnung umwitterte ästhetische Weltanschauung ihr evolutionäres Gewicht erhält. Man mag die Formel von der ästhetischen Rechtfertigung des Daseins so oft zitieren
wie man will, man wird damit doch nur ein scheingefährliches Sprachspiel treiben, solange nicht deutlich gemacht wurde, inwiefern das Ästhetische überhaupt als Rechtfertigungsgrund für das Ernsthafteste – das menschliche Leben im Ganzen – in Betracht gezogen werden konnte. Ästhetische Weltanschauung meint für Nietzsche nicht die Freigabe des Leichtsinns; sie befriedigt auch nicht die Nachfrage nach einer Ethik zum halben Preis für Künstler und andere Nie-Erwachsene. Die gewöhnlichen Deserteure des Realitätsprinzips kommen bei Nietzsche nicht auf ihre Kosten. Denn unter der Chiffre des Ästhetischen entdeckt Nietzsche einen anderen Horizont von Ernstfällen, von denen die traditionelle Kultur des kriegerischen Ernstfalls mitsamt seinem klassizistischen Stereotypen nichts weiß. Für die männliche Jugend in antiken Städten und modernen Nationalstaaten ist es gewiß ernst genug, wenn sie sich bereithalten soll dafür, mit ihrem Leben die Existenz und die Geltungsansprüche ihrer Vaterländer zu verteidigen.
Doch Nietzsche blickt über den Horizont des militärisch und staatlich Ernsten weit hinaus; er entdeckt, indem er sein eigenes Werden exemplarisch untersucht, den Ernst des Selbstgeburtskampfes, den das Individuum mit sich und seinem Schicksal auszufechten hat. Mit letzter Schärfe hebt Nietzsche den bis dahin kaum je eigens beleuchteten Sachverhalt ans Licht, daß die Aufgabe, das eigene
Leben aus der Rohstoffartigkeit herauszuführen und es zu einem Werk sui
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