Philosophische Temperamente
Neubestimmung des Sinns von Menschsein zu beginnen. Es ist das Verdienst von Ideenhistorikern wie Paul Rabbow und Pierre Hadot, daß sie gegen das moderne intellektualistische und kognitivistische Mißverständnis der antiken Philosophie Protest eingelegt haben, um statt dessen an deren beharrliches selbsterzieherisches Pathos zu erinnern. 10 Philosophie, die nicht als verwandelnde Übung (askesis) gewirkt hätte, wäre ihren antiken Anhängern auch als Wissensquelle suspekt geblieben. Wenn Diogenes von Sinope es fertigbrachte, Alexander aus der Sonne zu schicken, so war das Ziel der Übung auch erreicht. In diesem Sinn sind die weisen Pantomimen des Kynismus dem redefreudigen Platonismus ebenbürtig. Dem Mann aus Sinope gehört die Hälfte von allem, was der Ausdruck »ungeschriebene Lehre« bedeuten kann.
Ohne Zweifel geht die Philosophie seit Sokrates und Platon auf Ernüchterung aus. Damit stemmen sich die neuen Schulen gegen die unvordenklichen Lebensgewohnheiten der Halbwachheit. Noch immer ist Besonnenheit der modernste und unwahrscheinlichste Zustand; noch haben die alten kollektiven Räusche ihre Macht nicht eingebüßt. In der Tat hatten die athenischen Philosophen nicht nur ihre archaischen Kollegen, die Schamanen und Iatromanten, die Wahrsager-Heiler der altgriechischen Jahrhunderte
hinter sich, sondern auch die homeridischen Rhapsoden und die Dichter-Theologen der dionysischen Kulte. Mit ihnen zu brechen war die historische Mission der Philosophie. Nach Sokrates sind alle Philosophen nouveaux philosophes; neu müssen sie sein, sofern sie in die Medienrevolution der Schriftkultur und der städtischen Rhetorik verwickelt sind. Damit wirken sie als Agenten eines epochalen Umbruchs in den antiken Wissensverhältnissen. Sie reagieren darauf, daß künftig jeder Denker ein Schreiber seines Wissens werden muß. Die Reden von Sein, Gott und Seele – Ontologie, Theologie, Psychologie – treten in die Zeilen fortlaufender Prosatexte ein und stellen sich jetzt immer auch als Ontographie, Theographie, Psychographie vor. Die Zeilen der philosophischen Schrift sind diskrete Wege zur Wahrheit; sie sind die Datenhighways der Antike zur absoluten Information. Bald jedoch werden es der Zeilen viele sein; die »Wege« ziehen sich bedenklich in die Länge, so sehr oft, daß Zweifel daran aufkommen, ob die Freunde der Weisheit noch zu Lebzeiten wirkliches Wissen erlangen; könnte es nicht sein, daß diese bizarren Argumentierer am Ende nur Bibliotheken und keine Erleuchtungen besitzen?
Wie auch immer, indem der Philosoph als Autor diese langen und steilen Wege vorausgeht, entsteht ein neuer Modus von Autorität. Es ist die Autorschaft, die auf der psychagogischen Macht der Schrift beruht. Platons berüchtigte
Polemik gegen die Dichter bezeugt keine amusische Aversion gegen schöne Worte; sie ist Ausdruck einer unvermeidlichen Medienkonkurrenz zwischen den neuen besonnen verfaßten Reden über Gott, Seele und Welt und der alten trance- induzierenden Rhapsodik und der berauschenden und erschütternden Theatertheologie. Platon gab sich gleichsam für ein Medium des Gottes der Philosophen aus, der durch ihn das Gebot verkündete: Ich bin ein bilderloser Gott; du sollst keine gesungenen und gedichteten Götter mehr haben neben mir. Nun machen nicht mehr Ton und Vers die wahre Musik, sondern das Prosa-Argument und die dialektische Gedankenführung. So markiert das platonische Werk nicht nur die Epochenschwelle zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit; es steht auch an der Grenze zwischen der älteren musikalisch-rhapsodischen Wissensüberlieferung und der neueren prosaisch-kommunikativen Wissensbeschaffung.
Es macht den Charme des platonischen Textes aus, daß ihm – anders als den aristotelischen Abhandlungen und der gesamten akademischen Literatur – die Nähe zur Sprechweise der weisen Sänger und der frommen Dramaturgen noch durchwegs anzusehen ist. Für mehr als zweitausend Jahre wird der Ton der Philosophie auf den dissertierenden Prosatraktat festgelegt bleiben, bis es in moderner Zeit – nach einigen Präludien in der Renaissancephilosophie, namentlich bei Bruno – in Autoren
wie Novalis, Nietzsche, Valéry, Sartre zu einer erneuten Annäherung zwischen der dichterischen und der diskursiven Prosa kommt. Aufs Ganze gesehen ist das Massiv der klassischen Philosophie zwischen Platon und Husserl eine der gewaltigsten Folgen der Schriftkultur. Darin liegt einer der Gründe, warum gerade heute – in der Dämmerung
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