Pilgern auf Französisch
steht der Name seines Arbeitgebers: Chemin Faisant, ein Veranstalter, der geführte Wandertouren anbietet. So, das kann nun jeder sehen, die Gruppe kann sich versammeln.
Unter gewöhnlichen Umständen, wenn Clara also im Vollbesitz ihres Humors gewesen wäre, hätte sie beim Anblick dieses Transparents laut aufgelacht, aber unter den konkreten Bedingungen lag ihr Humor zusammengeknüllt ganz unten in ihrer Tasche und hatte keine Gelegenheit, sich auszudrücken, weil Clara so viel Stress und Wut hatte, dass er keine Luft mehr bekam.
Clara geht zu Guy, der sofort übers ganze Gesicht strahlt und sie äußerst zuvorkommend begrüßt. Doch um Claras miese Laune zu lindern, reicht das bei Weitem nicht aus. Frostig fragt sie ihn, wo die anderen seien. Guy sagt, im Moment seien erst sie beide hier, und so dreht Clara ihm demonstrativ den Rücken zu.
Auch gut, zumindest muss ich keinen Small Talk machen, denkt sich Guy.
Und ein drückendes Schweigen legt sich auf die beiden.
Vor dem Bahnhof fährt ein BMW mit getönten Scheiben vor. Der Fahrer, in einem gut geschnittenen Anzug, öffnet den Kofferraum, lädt einen funkelnagelneuen Rucksack aus und stellt ihn auf den Gehweg.
Wie ein kleiner Junge, der seine Eltern verloren hat, hockt Pierre im Fond; wutentbrannt und mit starrem Blick wartet er darauf, dass man ihm aus dem Wagen hilft. Sein Faktotum Robert — Chauffeur, Kindermädchen und rechte Hand in Personalunion — hält respektvoll die Tür auf, während sein Chef aus dem BMW steigt; genau wie im Fernsehen, wenn sich die Regierungschefs beim G8-Gipfel aus ihren Staatskarossen quälen. Robert nimmt den Rucksack und setzt ihn seinem Chef auf den Rücken, der, in schwarze Gedanken versunken, alles mit sich machen lässt, wie ein Säugling. Kaum hat Pierre das Ding auf dem Rücken, verliert er auch schon das Gleichgewicht und kippt nach hinten um. Hätte Robert ihn nicht rechtzeitig aufgefangen, wäre er glatt auf die Straße geflogen. Wenn man die nötigen Scheine hat, kauft man eben die beste Ausrüstung und versorgt sich mit allem, was einem zivilisierten Menschen auf so einer blödsinnigen Wanderung, genannt Pilgerweg, zum Komfort fehlen könnte. Der Komfort hat offensichtlich seinen Preis und vor allem sein Gewicht.
Pierre geht auf die Bahnhofshalle zu, dann bleibt er stehen, dreht sich um, sieht Robert an wie jemand, der sich verlaufen hat, und bittet ihn, sein Handy rund um die Uhr eingeschaltet zu lassen.
»Rund um die Uhr«, bestätigt Robert.
»Haben Sie auch alle meine Medikamente eingepackt?«
»Alle.«
Pierre bemüht sich, eine verschlossene Miene zu machen, und betritt die Halle. Er lässt den Blick über die Menschenmenge wandern.
Sogleich erspäht er seine Schwester und den schokobraunen Coach und geht auf sie zu.
Guy begrüßt auch ihn so freudig wie Clara. Pierre entbietet ihm ein tiefgekühltes »Guten Tag« und dreht ihm seinerseits den Rücken zu.
Guy, nunmehr umzingelt von zwei feindseligen Teilnehmern, nimmt es kommentarlos hin und wundert sich über diese merkwürdige Familienangewohnheit der beiden Geschwister, Menschen den Rücken zuzukehren, die sie freundlich ansprechen. Guy sagt sich: Na, das kann ja reizend werden! Mit diesen Leuten wird der Jakobsweg bestimmt kein Zuckerschlecken.
Nach einer Weile, die Guy wie eine Ewigkeit vorkommt, wirft Clara ihm trocken hin: »Haben Sie nicht zufällig diesen Saufkopf Claude gesehen, meinen Bruder?«
In diesem Moment kommt Mathilde. Wie ein Bach, der sich über die dürstende Erde ergießt, strömt sie auf Guy zu und begrüßt ihn lächelnd. Ein hübsches, blasses Gesicht, umrahmt von einem blaugrünen Tuch, eine zierliche Figur, die blauen Augen kämpfen gegen die Traurigkeit an, ihr Lächeln ist weder kokett noch eingebildet.
»Sie müssen Guy von Chemin Faisant sein?«
»Ja, für den Weg von Le Puy nach Santiago. Und Sie sind wohl Camille?«
»Nein, ich bin Mathilde.«
Guy prüft seine Liste.
»Ah ja, da ist es... Mathilde. Mathilde, darf ich Ihnen Clara und Pierre vor stellen? Wir warten noch auf fünf weitere Personen.«
Clara und Pierre begrüßen Mathilde höchst reserviert. Mathildes Lächeln erlischt.
Alle schweigen, warten. Na, das ist ja eine tolle Stimmung!
Am anderen Ende der Halle irren bereits seit geraumer Zeit zwei junge Männer umher und suchen das Transparent von Chemin Faisant.
Der ältere der beiden entdeckt es und geht erleichtert auf Guy zu.
»Guten Tag, entschuldigen Sie bitte, aber ist das die Gruppe
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