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Pinguine frieren nicht

Pinguine frieren nicht

Titel: Pinguine frieren nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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an.
    Viktor kauerte sich vor sie hin. Er wollte sie irgendwie trösten, etwas Liebes sagen. Inzwischen war er völlig wach, und er begriff, daß Vesna den Zorn ihres Vaters auf sich gelenkt hatte, damit der ihn, Viktor, nicht umbrachte. Nur wie diese Geschichte ausgehen würde, begriff Viktor nicht. Jetzt schien es ihm eher, daß Mladen statt eines abstrakten Grundes, ihn zu töten, auch noch einen konkreten bekommen hatte.
    Vesna streckte auf einmal die Hand nach Viktors Gesicht aus und fuhr mit ihrem Zeigefinger über seine Lippen .
    »Alles wird gut«, sagte sie leise. »Du warst mein Erster!«
    Viktor half ihr aufzustehen und setzte sie auf seine Koje. Er tunkte einen Handtuchzipfel in kaltes Wasser und gab ihn ihr, damit sie ihn auf das blaue Auge legen konnte.
    Durch das Rauschen der Wellen hörte Viktor irgendwann nervöse Schritte auf dem Holzdeck auf und ab gehen. Plötzlich wurden sie lauter. An der Tür erschien wieder Mladen. Hinter ihm sah Radko herein. Mladens Miene drückte echten Gram aus, während Radko völlig verwirrt aussah.
    Mladen trat in die Kajüte. Er warf einen Blick zu seiner Tochter hinüber, baute sich vor Viktor auf und musterte ihn lange schweigend. Plötzlich hob sich langsam seine rechte Hand. Viktor spannte sich an. Vesna saß weit weg [529] auf der Koje, und das hieß, diese Faust würde auf Viktor landen.
    Aber die Faust öffnete sich, und der lange, dicke Zeigefinger berührte plötzlich die Narbe an Viktors rechter Schläfe.
    »Woher?« fragte Mladen.
    »Tschetschenien«, antwortete Viktor.
    Mladen seufzte sichtbar erleichtert. Er zog sein gestreiftes Matrosenshirt hoch und wies auf mehrere Kugelnarben an den Schultern und an der Brust.
    »Bosnien«, sagte er.
    Unter dem hochgezogenen T-Shirt baumelte ein goldenes orthodoxes Kreuz an einer dicken Schnur. Das Kreuz war grob und amateurhaft gearbeitet. Viktor starrte auf dieses Kreuz, als suchte er in der vertrauten Form irgendeine neue, unbekannte Bedeutung.
    »Du bist doch kein Jude?« fragte Mladen plötzlich alarmiert.
    »Nein, Ukrainer… meine Eltern waren Russen.«
    »Wir Slawen sollten zusammenhalten«, sagte Mladen langsam, fast wie einstudiert.
    Er packte Viktor mit beiden Händen bei den Schultern, zog ihn an sich und umarmte ihn plötzlich.
    »Ich freue mich für dich, mein Sohn«, sagte er mit bebender Stimme. »Wenn du ihr ein Leid tust, bring ich dich um. Wenn sie dir was antut, ist das deine Privatsache. Verstehst du?«
    Viktor nickte.
    Mladen lockerte seine Umarmung, worauf Viktor das Gleichgewicht verlor und fast umgefallen wäre.
    [530] »Heute halten wir Hochzeit«, erklärte Mladen nachdenklich. »Und morgen früh um sechs kommst du mit mir an Deck. Dann zeige ich dir, was alles zu tun ist…«
    Viktor blieb mit Vesna allein zurück. Er schloß die Tür, diesmal ohne den Riegel vorzuschieben, setzte sich neben Vesna auf die Koje und sah ihr in die Augen.
    »Er ist kein Mörder«, flüsterte Vesna. »Er wollte die Heimat retten. Denk nichts Schlechtes von ihm, er ist ein guter und ehrlicher Mensch. Er sagt immer die Wahrheit.«
    »Wie du?«
    »Ja!«
    107
    An diesem Abend holte die Mannschaft der Jacht ›Vesna‹ die Segel ein, ging in der Nähe einer kleinen Insel vor Anker und feierte Hochzeit. Mladen und Radko zogen sich dunkle Zweireiher mit weißem Hemd und Krawatte an, trugen den Tisch an Deck und verteilten Speisen aus den Vorräten darauf. Selbst Mischa-Pinguin setzten sie fast gewaltsam auf einen Hocker, für ihn hatte Mladen eine große Dose Thunfisch aufgemacht. Radko brachte ein Akkordeon, und er und Mladen sangen schön, laut und feurig los. Viktor versuchte gar nicht erst, auf die Worte zu hören. Im ganzen Temperament der Musik war etwas Zigeunerisches, nur war das Gefühl wilder Freiheit in diesem Lied viel stärker als bei den Zigeunern. Von einer vorbeisegelnden Jacht wurde herübergerufen. Mladen stoppte die Musik mit einer Handbewegung, rief fröhlich zurück: [531] »Wir feiern Hochzeit!«, und die Jacht mit dem schneeweißen Segel und der Flagge eines der neuen Balkanstaaten schien einen Moment lang anzuhalten. Von ihrem Deck sahen vier kräftige Männer und zwei braungebrannte Frauen zur Hochzeitsgesellschaft herüber. Sie riefen etwas im Chor und wandten ihre Blicke nicht von den Hochzeitern. Mladen sah Viktor und Vesna an.
    » Gorko! « forderte er stolz den traditionellen Kuß.
    Viktor wandte sich zögernd zu Vesna. Sie umarmten sich. Ihre Lippen vereinigten sich in einem Kuß. Zuerst

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