Pinguine lieben nur einmal
Ich habe noch genügend Beschäftigungsmöglichkeiten. Lesen zum Beispiel. Ich versuche mich immer damit rauszureden, dass Lesen zu meinem Studium dazugehört, aber eigentlich dient es doch eher meiner persönlichen Unterhaltung.
Cem hingegen ist ein großes Stück eifriger als ich. Er lernt den ganzen Tag. Es lenkt ihn davon ab, hungrig und durstig zu sein. Beispielsweise lernt er zum wiederholten Mal die Namen sämtlicher Knochen und unterhält sich mit dem lebensgroßen Skelett, das mangels Platz in seinem Zimmer die Küche bewohnt. Anfangs wollte ich mich mit dem Ding nicht anfreunden, weil es mich bei jedem Griff in den Kühlschrank daran erinnerte, dass irgendwo Menschen hungern und ich nicht. Zugleich bin ich aber auch neidisch auf das Skelett, weil es aus gegebenem Anlass sehr schlank ist.
Cem hat es dann verkleidet und ihm einen Namen gegeben, damit ich es als drittes WG -Mitglied akzeptieren kann. Seitdem heißt es Horst-Muhammed Beckham. Horst, weil das sehr deutsch klingt, Muhammed, weil das sehr türkisch klingt, und Beckham, weil es dünn wie Spielergattin Victoria ist. Es trägt eine blinkende Weihnachtsmannmütze, eine Blumenkette und eine herzförmige Sonnenbrille, die wir mit Tesa festkleben mussten, weil Horst-Muhammed Beckham weder Nase noch Ohren hat. Außerdem ist eine Lichterkette um ihn herum drapiert, weshalb er gleichzeitig als indirekte Beleuchtung fungiert. Die RTL -Einrichtungsspezialistin Tine Wittler wäre sicher stolz auf unsere innenarchitektonische Kreativität.
Cem hat Horst-Muhammed Beckham oder kurz HMB (sprich: Äitsch-Äm-Bi– das Aufsagen des kompletten Namens hat sich nach kurzer Zeit als zu zeitaufwendig erwiesen) in die Küchenmitte verfrachtet, wo er an ihm herumdoktert und klug klingende lateinische Wortbrocken murmelt.
Es ist Samstag, also Einkaufstag.
Ich unterbreche Cem beim Klugklingen und bestehe auf unsere allwöchentliche Aldi-Lidl-Edeka-Tour. In genau dieser Reihenfolge und nicht anders. Wir können nicht alles in einem Supermarkt besorgen, weil das nicht geht. Aldi ist am günstigsten, also wird bei Aldi der Großteil des Einkaufs erledigt. Meinen Saft gibt es aber bei Lidl, also muss ich zu Lidl. Tütensuppen von Maggi gibt es bei Edeka, also muss ich zu Edeka. Für Tütensuppen von Maggi würde ich zwar nicht alles, aber auf jeden Fall sehr viel geben.
Unsere Einkaufstouren nehmen manchmal mehrere Stunden in Anspruch, weil wir oft darüber streiten, was wir brauchen und was nicht. Wenn es Schnäppchen gibt (dickminige Buntstifte, Dampfgarer oder gar Donutmaschinen– wie super ist das denn, eine Donutmaschine!!!), möchte ich die nämlich gerne alle haben. Obwohl ich weiß, dass es weitaus vernünftiger wäre, darauf zu verzichten, bedarf es Woche um Woche des diplomatischen Geschicks meines Sparfuchsmitbewohners, um mich davon abzuhalten.
Nach anstrengenden zwei Stunden Shoppingkampf kommen wir gegen drei Uhr nachmittags zurück nach Hause, und ich bin immer noch etwas miesepetrig, weil mir Cem verboten hat, uns von meinem Geld eine automatische Zitrusfruchtpresse zu kaufen. Er dagegen quengelt, weil ich ihn davon abgehalten habe, mitten im Aldi eine Fressorgie mit noch unbezahlten Schokokeksen zu starten. Wir fauchen uns an, bis wir die Eingangstür passieren.
Dann wird Cem plötzlich aufgeregt. »Duhuuu«, sagt er langgezogen, »ist jetzt schon ein paar Tage her, dass Sophie von dem Einzug hier gesprochen hat.« Er deutet auf die Wohnung links neben der Haustür.
Ich nicke. Cem war sehr enttäuscht, dass bisher niemand bei uns geklingelt hat, um sich persönlich vorzustellen.
Er lässt die properen Einkaufstüten mit einer Vielzahl verschiedener Supermarktlogos auf den Boden plumpsen, rollt die Pulloverärmel bis zu den Ellenbogen hoch und drückt ein Ohr gegen die geschlossene Wohnungstür.
» CEM «, ermahne ich ihn, »das ist ja wohl total unhöflich, komm weg da!« Ich zerre an seinem Pulli, aber er rührt sich nicht vom Fleck.
Wie ein kleines Kind lauscht er an der Wohnungstür und fängt an zu kichern. Mist. Ich linse das Treppenhaus hoch und luge in alle Winkel. Keiner da. Alles völlig ausgestorben.
»Was hörst du?«, flüstere ich.
Dieses Haus ist nämlich furchtbar hellhörig und hat sich deshalb schon mehrfach als studentenuntauglich erwiesen. Steffi zum Beispiel, die neben uns wohnt, hat ein reges Sexualleben, und Kai, der über uns wohnt, ist leidenschaftlicher Rammstein-Fan. Viel Gestöhne und viel Musik sind äußerst störend
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