P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
alten kapitalistischen Land, wie Roberto es nannte, war verlockend. Die geografische Distanz verhilft auch zu einer inhaltlichen: Ich hoffte, dass ich von den immer gleichen Antworten wegkommen würde. Es istschwierig, als alte Besserwisserin so zu tun, als ob man nichts wüsste.«
»Wissen heißt nicht einfach Inhalte kennen«, ergänzte Nora, »es geht doch darum zu wissen, wie man Erkenntnisprozesse anregt und begleitet. Ihr alten 68er werft einfach mit Theoremen um euch, die zwar stimmen, aber sich nicht mit der Wirklichkeit verhaken und zum Handeln führen. Aussagen gibt es genug, es geht darum, was wir damit anfangen.«
»Wissen kann man googeln«, warf Marcel ein, »Wikipedia ist ja gar nicht so schlecht. Prozesse einzuleiten, die zu handlungsfähigen Gemeinschaften führen, ist viel anspruchsvoller. Da braucht es Luft – und Geduld.«
»Man muss sich schon gut kennen, bevor man zusammen etwas unternimmt«, stimmte ihm Nora zu.
Rita schmunzelte. »Was meinst du, wie viele Jahre wir uns in WGs beim Kochen, Putzen und Kinderhüten kennengelernt hatten, bevor wir all unsere Initiativen und NGOs starteten? Schau dir nur einmal die Lebensberichte der 68er in Heinz Niggs Buch an. Es fehlte nicht an Prozessen.«
»Dann geht das halt alles wieder von vorne los«, warf Nora ein.
»Ich wohne gerne allein«, wandte Margrit ein, »ich brauch keine WGs, um kollektive Prozesse zu entwickeln. Das kann man auch außerhalb, in einem neutralen Rahmen. Darum fühle ich mich hier wohl: Man kann mit Leuten zusammen sein, wenn man will. Man kann sich aber auch zurückziehen. Aber was soll das? Darum geht es doch nicht. Prozesse kann irgendwer für irgendwas entwickeln, die Frage ist doch, wohin das gehen soll. Mein wichtigster Kritikpunkt an der Linken ist, dass sie immer nur von Rahmenbedingungen reden, von Gesetzen, Krediten, Subventionen und Steuern, aber nicht vom Kern. Sie versuchen, die Gesellschaft zu steuern, aber sie machen sie nicht. Jeder Reiseveranstalter würde pleitemachen, wenn er seine Inserate so formulieren würde.«
Rita stimmte ihr zu: »Genau. Die Linke hat sich immer wieder hinter dem liberalen Paravent verschanzt. Jeder sollleben, wie er will. Man kann den Leuten keinen Einheitslebensstil vorschreiben. Alles Vorwände, um nicht konkret werden zu müssen. Aber jetzt werden wir konkret!«
Sie holte aus einer Tasche ein schwarzes Notizbuch hervor, das genau jenen in Manettis Schuber glich.
»Der fehlende Band 11!«, rief ich aus.
»Nein, der neu geschriebene Band 13!«, erwiderten sie im Chor.
»Und was steht da drin?«, fragte ich und streckte meine Hand nach dem Buch aus.
»Das bleibt noch geheim«, erklärte Rita, »es geht jetzt nicht schon wieder um geniale Aussagen. Das ist kein neues Manifest, kein Programm, keine Erklärung.«
»Es ist wieder eines dieser kleinen schwarzen Büchlein, die in letzter Zeit Furore machen«, vermutete ich.
»Vielleicht«, erwiderte Nora, »vielleicht macht es Furore, vielleicht bleibt es aber auch unser privates Geheimnis. Wir haben mehr als einen Monat daran gearbeitet.«
»Ich würde es als eine Art Büchsenöffner bezeichnen«, sagte Marcel.
»Die Leute wissen alles«, erklärte Rita, »das Zeitalter der Aufklärung ist vorbei. Das ist eher eine Art Leitfaden, ein Handbuch zur konkreten Umgestaltung des Lebens. Es macht Know-how anwendbar, es fördert die Lust, es anzuwenden.« Automatisch versuchte ich mir vorzustellen, was in dem Notizbuch stehen konnte. Dann erkannte ich die Falle: Wahrscheinlich stand eben nichts darin. Ich war einmal mehr auf der Suche nach dem genialen Trick, der die Welt aus den Angeln heben würde.
»Ist es eine Beschreibung von Alivia?«, riet ich.
»Zum Teil«, sagte Rita, »ohne direkt Bezug darauf zu nehmen.«
»Ist es ein Handbuch zur Führung von Gesprächen?«
»Logischerweise«, antwortete Marcel, »es ist eine Anleitung zur Eröffnung von Dialogen. Etwas Psychologie ist auch dabei. Wie soll man sonst mit all den Leuten reden?«
Es war zum Verzweifeln: Wer konnte denn schon wissen, was die »Leute« auf dem Herzen hatten?
»Ihr wollt mit Leuten reden?«, fragte ich.
»Wir wollen über ihre Ängste reden«, meldete sich Claudia, »und zusammen Auswege finden. Wir müssen Vertrauen in unsere Kraft aufbauen.«
»Ihr macht ein Gesprächsangebot?«
Sie lächelten mich harmlos an.
»Klar«, sagte Nora, »wer redet denn sonst mit den Leuten?«
Rita holte etwas aus: »Die Leute haben Existenzängste. Sie sehen, wie das
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