P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
wichtigsten Sache, nämlich dass es sich beim Datum um eine Nummer handelte, nicht auf die Spur gekommen war.
»Ich fühlte mich immer so nahe dran, ich war nahe dran, aber ich kam einfach nicht drauf. Ich hatte schon begriffen, dass es irgendwie um ein Verschwinden ging. Ich bemerkte, wie andere verschwanden. Ich wollte auch verschwinden. Es war zum Wahnsinnigwerden – und ich wurde es.«
»Ich wollte eigentlich gar nicht verschwinden«, gab ich zu, »ich wurde entführt.«
»Ich ja auch. Man setzte mich in Lissabon auf ein Kreuzfahrtschiff, und hier bin ich.«
Wir stießen mit dem Weißwein an.
Rita Vischer gestand mir, dass sie nicht sicher war, ob sie es schaffen würde, in den Kantonsrat zurückzukehren. »Lieber genieße ich hier meine Erschöpfungsdepression und höre Ruedi zu.«
»Es gibt auch in Zürich Möglichkeiten für ökologische Projekte«, neckte ich sie.
»Da braucht man Nerven wie Drahtseile.«
»Zum Beispiel auf dem Gelände des Flughafens Dübendorf, das würde gerade für ein Alívio reichen.«
»Der Bund will es für den expandierenden Flugverkehr nutzen«, parierte sie.
»Dann halt nicht.«
Rudolf Merz hatte an einem Tisch Platz genommen, das Publikum verteilte sich auf die Stuhlreihen. Mit Ausnahme einer Leselampe und des Notlichts über dem Ausgang wurden die Lichter gelöscht. Auch hier galt: ein geteiltes Watt ist ein doppeltes Watt. Lesungen und Vorträge waren deshalb in Alívio sehr häufig.
Rudolf Merz hüstelte. Es wurde still.
»Nachdem wir ja alle Roberto Manetti gelesen haben, möchte ich jetzt ein bisschen Robert Walser vorlesen«, begann der kleine, zerknitterte Mann, »ich beginne mit einigen Texten aus den
Kleinen Dichtungen
: ›Wie war der Mond auf dieser Wanderung schön, und wie blitzten und liebäugelten die guten, zarten Sterne aus dem hohen Himmel auf den stürmischen ungeduldigen Fußgänger herab, der da fleißig weiter und weiter marschierte. War er ein Dichter, der da von dem leuchtenden Tag in den sanften blassen Abend hineinlief? Wie? Oder war es ein Vagabund? Oder war er beides?…‹«
31.
Am nächsten Tag bekam ich eine Einladung ins Tivoli, wo Nora Nauer, Rita Vischer, Margrit Limacher und einige andere wohnten. Sie wollten mir »etwas Besonderes« zeigen. Im Mato Grosso sind die Tage feucht und heiß, die Nächte aber angenehm kühl, um die 15°C. Man trifft sich daher spät am Abend, so gegen elf Uhr.
Obwohl die
habicombi
Tivoli hieß, hatte sie keinen besonderen italienischen Touch. Man hatte mir gesagt, dass die Namen irgendwann einmal verlost und einfach zugeteilt worden waren.
Immerhin gab es im Innenhof eine große Brunnenanlage, die der Kühlung diente und in deren Becken man auch baden konnte.
Das Erdgeschoss von Tivoli war um die fünf Meter hoch, zwischen den Stützpfeilern hingen Hängematten, Ventilatoren erzeugten ein kühlendes Lüftchen. Die Beleuchtung war stark reduziert. In den Lichtinseln waren verschiedene Dinnerpartys im Gang.
Ich suchte nach der Zürcher Gruppe. Immer wieder wurde ich erkannt und spontan eingeladen. Mit einem eiskalten Bier in der Hand bummelte ich weiter durch die nächtliche Soziallandschaft des Tivoli.
Als ich schließlich laut und deutlich »Mir fahred mit eim Füdli übers Lintuech…« hörte, wusste ich, dass ich sie gefunden hatte.
Die Gruppe saß in einem Kreis zusammen, lachte, aß und trank. Ich sah viele bekannte und einige neue alivianische Gesichter. Nachdem Nora mich begrüßt hatte, zeigte sie mir ein Buffet, wo ich einen Teller füllte und mich dazusetzte.
Der Stille Has
sang über Löcher. Noch und nöcher.
Ich knabberte an einem gerösteten Schweinsfuß. Mein Blick schweifte in die Runde: Nora, Rita, Marcel, Margrit, Cornelia, João, Claudia, Andreas … Endo Anaconda war nicht dabei. Sie sahen alle aus, als ob sie sich im Tivoli zu Hause fühlten.
Jemand brachte den
Stillen Has
zum Verstummen.
Rita erzählte endlich, wie es dazu gekommen war, dass sie verschwunden war, ohne jemanden zu informieren. »Als wir nach Mecklenburg geschleust worden waren, hörten wir, dass Roberto uns eine Retraite mit Erholungsaufenthalt vorschlug – alle Spesen bezahlt. Es war genau der richtige Moment, zwei Jahre nach der großen Finanzkrise. Ich nahm zwar die Diskussionen um das neue SP-Programm nicht allzu ernst, aber das Bedürfnis, sich darüber zu unterhalten, wie es nun weitergehen sollte, war schon da. Und zwar nicht nur programmatisch, sondern ganz persönlich. Etwas Urlaub vom bösen,
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