P.M. Manetti lesen oder Vom Guten Leben
1.
Roberto Manetti ist vor elf Jahren gestorben. Letztes Jahr sind seine Notizbücher in einer Faksimile-Ausgabe herausgekommen. Sie besteht aus zwölf schwarzen, fingerdicken Notizbüchern in einem ebenso schwarzen Schuber, Format A5. Im Unterschied zum Original trägt jedes der Notizbücher auf dem Rücken und vorn auf dem Deckel eine Zahl von 1 bis 12 in Goldprägung. Die Form der Ziffern ist dick und altmodisch, sodass man den Eindruck hat, Objekte aus den zwanziger oder dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts in den Händen zu halten. Sonst aber entsprechen sie genau den Originalen, die Seiten sind blau kariert, unnummeriert, und natürlich ist der ganze Text in einer digitalen Annäherung an Manettis schöne, leicht leserliche Handschrift gehalten. Es gibt nur wenige Zeichnungen und Skizzen. Die Bände enthalten keine gedruckten Hinweise auf Verlag, Jahr, den Autor. Erst der Schuber verrät, dass der Herausgeber der Ammann Verlag ist, das Jahr der Publikation 2009, der Autor Roberto Manetti (1941–1999). Auf dem Schuber findet man den Strichcode, die ISB-Nummer, eine kurze Notiz darüber, woher die Notizbücher kommen und wie die Beinahe-Faksimile-Ausgabe hergestellt wurde.
Egon Ammann hat mit der Herausgabe von Manettis Notizbüchern sein Gespür für literarische Qualität wieder einmal unter Beweis gestellt. Eine teure Faksimile-Ausgabe des einzigen Werks eines unbekannten, verstorbenen und schwer fassbaren Autors herzustellen, war ein immenses verlegerisches Risiko, das ein anderer kaum eingegangen wäre. Obwohl die Ausgabe teuer ist (550 Franken), ist sie ein voller Erfolg. In der Schweiz hat die Auflage 12000 erreicht, in Deutschland ist sie bei 8000 (hauptsächlich in Berlin), in Österreich bei 200 (ein paar Exil-Zürcher). Dabei muss man berücksichtigen, dass man den Text ohne intimste Kenntnisse der Zürcher Szene kaum verstehen kann. (Die Berner und Genfer Szene kommt auch vor, die Basler Szene kaum, aber da viele Basler in Zürich leben, gibt es sicher auch Leser in Basel.)
Wenn man bedenkt, dass Manettis Familie aus Pietät auf ein Honorar verzichtet hat, dann kann man erahnen, dass der Ammann Verlag mit diesem Produkt finanziell gut gefahren ist.
Und nun habe ich mir also – mit einem Jahr Rückstand – auch meinen Manetti gekauft. Man kann es sich praktisch nicht mehr leisten, Roberto Manetti nicht gelesen zu haben, alle reden von ihm, er ist überall latent präsent, er hat die Szene (welche auch immer das ist) vollständig durchseucht. Manetti lesen heißt immer Manetti kaufen. (Auch das erklärt die hohe Auflage.) Man kann ihn nicht ausleihen, er wird quasi zu einem Teil der Intimsphäre wie die Zahnbürste, er wird persönlich. Roberto Manetti scheint zu jeder Leserin, zu jedem Leser direkt zu sprechen. Was umso paradoxer ist, als er nie für ein mögliches Publikum geschrieben hat und schon eine Weile tot ist. Der Ort, von dem aus er zu uns spricht, ist schon ein anderer.
Bei Manettis Notizbüchern handelt es sich nicht um Tagebücher. Tagebücher sind ja im Prinzip unlesbar. Die Wahrheit ist dem Menschen zwar zumutbar, wie Ingeborg Bachmann meinte (zu Unrecht, denn auf die Zerbrechlichkeit des Menschen muss man durchaus Rücksicht nehmen), aber echte, intime Tagebücher erregen höchstens Ekelgefühle. Nicht gemeint sind damit schon für ein zukünftiges Publikum geschriebene Tagebücher, wie jene des Schlaumeiers Max Frisch, die wohl überlegt und perfekt redigiert sind. Manettis Texte sind also keine spontanen Ergüsse, keine beliebigen Impressionen, sondern sie sind auf eine seltsame Weise gültig, ohne jedoch künstlich zu wirken. Dabei ist die Sprache völlig unauffällig, nicht aufdringlich elegant oder gar mit Bildungsmüll überladen. Wahrscheinlich hat er sich seine Sätze mehrmals zurechtgelegt, bevor er sie niederschrieb. Obwohl wir jetzt zwölf Bände à 200 Seiten haben, also um die 2400 Seiten, hat er eigentlich nicht viel geschrieben, denn die Notizbücher decken die Periode von 1975 bis 1999, insgesamt 24 Jahre, ab. Wann genau die Einträge erfolgten, erfährt man nicht, man kann es höchstens an Hand von zeitgeschichtlichen Bezügen, die bisweilendurchschimmern, erahnen. Wie erreicht man es, Texte leicht und spontan wirken zu lassen, die sich bei genauerer Analyse als raffiniert durchkomponiert herausstellen? Manetti hat es auch geschafft, auf das, was man als »Stimme« des Autors bezeichnet, zu verzichten. Er hat keine erkennbare Stimme, er sagt seine Sachen
Weitere Kostenlose Bücher